Noch ein Mord, Mylord. Ralf Kramp. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ralf Kramp
Издательство: Bookwire
Серия: KBV-Krimi
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783954415748
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auf die Rückseiten der Häuser an der Clumber Street. Und nun raten Sie mal, wo das Haus steht, in dem der unglückliche Professor Ponsonby sein Ende fand!«

      »Etwa …?«

      Er nickte mit einem Lächeln, wie es breiter nicht sein konnte.

      »Sie meinen also, jemand aus dem Ensemble hat den Mord möglicherweise beobachtet?« Was mein Freund mir da berichtete, verschlug mir schier den Atem.

      »So sieht es für mich aus, mein lieber Nigel. Und bevor Sie nun sagen: Aber wie kann jemand einen Mord begehen, ohne dass er sich vergewissert, dass die schützenden Vorhänge zugezogen sind, sage ich Ihnen: Solche Dinge passieren nun mal. Ich habe eine Vermutung. Denken Sie an die Botschaft in der dritten Annonce: Wie? Durch falschen Feuerlärm geschreckt? Sie kennen doch das Ärgernis mit dem zu feuchten Holz im Kamin, das erst stundenlang vor sich hinglimmt und gar nicht richtig brennen will. Und wenn es dann doch irgendwann ausreichend erhitzt und hinlänglich getrocknet ist, entzündet es sich häufig mit einem hellen Feuerschein in voller Gänze. Großes Pech für den Mörder, wenn er genau zu diesem Zeitpunkt sein Opfer in die Mangel genommen hat. Wie gesagt, es ist nur eine Möglichkeit von vielen.«

      Einen Moment schwiegen wir. Außer uns war jetzt nur noch eine Handvoll Menschen im Raum. An der Bar wurden klimpernd die Gläser beiseitegeräumt. Die Pause strebte unweigerlich ihrem Ende entgegen.

      »Und deshalb sind wir also hier?«, fragte ich. »Was hoffen Sie hier denn heute Abend zu erfahren?«

      Er klopfte mir gönnerhaft auf die Schulter. »Ich habe bereits alles erfahren, mein Junge. Versuchen Sie doch bitte einmal, sich möglichst präzise daran zu erinnern, was ich vorhin tat, bevor das Stück losging.«

      Damit erwischte er mich auf dem falschen Fuß. Alles war eine einzige wilde Hetze gewesen. Ich war am frühen Abend aus der Kanzlei nach Hause gehastet, um mich rasch umzuziehen. Dann war ich in Windeseile hierher ins West End gerast, wo Merridew bereits stirnrunzelnd auf das Ziffernblatt seiner Taschenuhr guckte und verstimmt mit der Zunge schnalzte.

      »Sie standen am Eingang, gleich neben der Kasse. Es sah fast so aus, als gehörten Sie zum Personal.« Ich legte nachdenklich den Zeigefinger an die Unterlippe. »Warten Sie mal, Sie sagten, Sie seien der Erste gewesen und hätten ganz schön lange auf mich warten müssen.«

      Merridew grunzte zustimmend. »Man kann wirklich die Uhr nach Ihnen stellen, Nigel. Man muss nur mit einkalkulieren, dass Sie gelegentlich in einer anderen Zeitzone leben.«

      »Jaja. Dann gingen wir ins Theater und gaben unsere Mäntel und Hüte ab. Sie überreichten der Garderobiere auch Ihren Gehstock. Wir waren spät dran, aber Sie bestanden darauf, unbedingt noch etwas zu trinken. Also gingen wir zur Bar, und da hat Sie dieser Mann angerempelt und Ihnen den Kaffee über den Ärmel gekippt. Dann haben wir rasch unsere zwei Scotch Soda hinuntergestürzt, und Sie sagten, Sie müssten noch kurz zur Toilette. Um den Fleck auf Ihrem Ärmel abzutupfen, erklärten Sie mir, und ich solle schon einmal hineingehen.«

      »Ja, genau, und das taten Sie dann ja auch ganz brav. Als ich zu Ihnen hineinkam, öffnete sich gerade der Vorhang.«

      Ich nickte bestätigend. »Sie erinnern sich an das verärgerte Flüstern und Tuscheln, als Sie sich durch die Reihe zu mir durchkämpften?«

      »Soll sich nicht so anstellen, das Volk. In der ersten Viertelstunde passiert sowieso nie was Wichtiges.« Er blieb stehen und sah den letzten Leuten nach, die durch die Tür in das Theater strebten. Er lehnte sich gemächlich gegen die Wandtäfelung und faltete die Hände vor dem gewaltigen Bauch. »Ich erzähle Ihnen noch fix, was weiterhin geschah, bevor das Stück schließlich begann.«

      »Aber wirklich ganz fix. Es geht gleich los.«

      »Keine Drängelei, Sie Jungspund!« Er hob mahnend den Zeigefinger. »Also gut, ich war, wie gesagt, so ziemlich der erste, der ins Theater kam, und das hatte auch seinen guten Grund. Schließlich wollte ich die Leute in Augenschein nehmen, die heute besonders frühzeitig ankamen. Die Person, die ich erwartete …«

      »Sprechen wir etwa von diesem ABC?«

      »Unterbrechen Sie mich nicht. Immer der Reihe nach! Ich wartete auf den Mörder aus der Clumber Street in Nottingham. Und ich war der Meinung, dass dieser Mann …«

      »… oder diese Frau?«

      »Ach, Mumpitz, Nigel! Ein Würgemord! Auch wenn es nur ein schmächtiger, alter Physiker war, ist das nun wirklich nicht das Mittel, dessen sich Frauen bedienen! Dieser Mann …!« Er funkelte mich an, um mir jede weitere Unterbrechung zu untersagen. »… würde allein kommen, da war ich mir sicher. Und er würde so früh auftauchen wie möglich, weil er nervös war und keinen Fehler machen wollte. Nur sechs Leute kamen in der ersten halben Stunde allein. Eine vertrocknete Jungfer, ein hinkender Pfaffe, eine Matrone mit Körpergeruch … entweder zu jung oder zu alt, zu locker, zu irgendwas … keiner passte. Aber dann beobachtete ich aus nächster Nähe, wie ein Mann ohne Begleitung mit nervösen Fingern seine Brieftasche öffnete und ein Billett herausholte. Es war mit einer Büroklammer an einer Karte befestigt, auf der in der Handschrift einer Frau – gottseidank trotzdem einigermaßen klar leserlich – geschrieben stand:

       Gonzago an ABC 6. Oktober – Endlich lernen wir uns kennen!

      Das ist jetzt mal ausnahmsweise kein Shakespeare mehr. Dafür war aber zu meiner Überraschung und zu meiner Freude eine Unterschrift auf dieser Karte. Der Name, den ich dort las, lautete Mignon O’Doherty.«

      Ich konnte mich nicht zurückhalten. »Aber das ist doch die Darstellerin der Mrs Boyle! Die Frau, die gerade auf der Bühne erwürgt wurde!«

      Es schellte jetzt ein drittes und letztes Mal.

      »So ist es!«

      »Aber warum? Was soll das? Warum lädt sie ihn hierher ein? Will sie ihn erpressen? Das ist doch sehr riskant, ihm dabei Auge in Auge gegenüberzutreten!«

      »Genau das ist es! Riskant! Gefährlich für diese Schauspielerin! Brandgefährlich! Und genau das war Dreh- und Angelpunkt des Plans! Der Mann, der hierhergekommen ist, ist nervös! In Panik! Er steht bis in die Haarspitzen unter Strom!«

      Mein Blick wanderte zur Bar, und ich erinnerte mich plötzlich an die Szene, die sich vor einer guten Stunde dort abgespielt hatte. Ich sah plötzlich einen sehr dünnen, sehr nervösen Mann mit geröteten Wangen und flackernden Augenlidern vor mir. Er balancierte eine Tasse Kaffee und stieß meinen Freund an.

      »Der Mann mit dem Kaffee? Ist er es? Der, der Sie angerempelt hat?«

      »Ich habe ihn angerempelt, Nigel! Aber alle glaubten, es sei umgekehrt passiert. Er selbst glaubte das auch. Man braucht natürlich ein bisschen Geschick und ein wenig schauspielerisches Talent … Jedenfalls hat er sich wortreich bei mir entschuldigt und bat darum, für die Kosten der Reinigung aufkommen zu dürfen. Und da habe ich ihn schlicht und ergreifend nach seiner Visitenkarte gefragt. Tusch!«

      Er hielt mir mit triumphierender Geste eine kleine Karte hin. Sie war recht schmucklos gehalten, mit einer einfachen Druckschrift: Prof. Archibald Benjamin Carruthers stand dort zu lesen, und darunter seine Adresse und Telefonnummer in Oxford.

      »ABC! Daher wissen Sie also seinen Namen!«

      Merridew nestelte am Revers seines Jacketts herum. »Ich tätigte dann drei kurze Telefonate, bevor ich endlich zu Ihnen in das Theater kam. Zuerst habe ich die Nummer auf der Karte gewählt. Als sich am anderen Ende eine Frauenstimme meldete und sorgenvoll fragte: ›Archie, bist du das? Wo um alles in der Welt steckst du?‹, war ich schon hocherfreut, denn Carruthers trug keinen Ehering an der rechten Hand, jedoch am linken Ringfinger dafür gleich zwei, was bedeutet, dass er verwitwet und noch nicht wiederverheiratet ist.«

      »Verblüffend«, sagte ich ehrlich begeistert.

      »Dann fragte ich ganz unverfänglich: ›Verzeihung, mit wem bin ich denn verbunden?‹, und sie erwiderte in ihrer Verwirrung: ›Geraldine Ponsonby‹.« Er breitete mit der Geste eines Zauberkünstlers die Hände aus. »Tja, und somit wäre auch das Mordmotiv aus dem Oktober