Merridew saß zu meiner Rechten und stieß ein schwer zu deutendes Schnaufen aus. Als sich unter lautem Applaus der Vorhang schloss und das warme Saallicht des Ambassador Theaters anging, erhob er sich schwerfällig aus seinem Sessel. »Pause«, grunzte er. »Wurde auch langsam Zeit.«
Gemeinsam mit dem restlichen Publikum strebten wir auf einen der Ausgänge zu, um uns draußen mit einem Drink zu erfrischen.
»Und? Gefällt Ihnen das Stück?«, fragte ich im Hinausgehen.
Merridew wandte sich zu mir um und sah mich mit großen Augen an, als habe er die Frage nicht richtig verstanden. »Hm? Ach so, ja, ganz hübsch, ganz hübsch.«
Es war der 25. November, der Abend der London-Premiere des neuen Theaterstücks aus der Feder von Agatha Christie. Die Mausefalle war in den zurückliegenden beiden Monaten mit achtbarem Erfolg auf einigen Bühnen im ganzen Land aufgeführt worden, bevor das Ensemble jetzt in London angelangt war.
»Wir bleiben hier unten in der Stalls Bar«, entschied Merridew. »In der oberen Bar ist es eng, und ich habe keine Lust, mich diese langen Treppen dort hinaufzuquälen. Bis man erst mal da oben ist, ist die Pause ja fast schon vorbei.«
Die knapp fünfhundert Gäste hatten den ersten Teil des Zweiakters offenbar sehr genossen. Es herrschte blendende Stimmung. An der Bar dauerte es eine Weile, bevor ich uns zwei Gläser Champagner organisieren konnte. Als ich zu Merridew zurückkehrte, hatte dieser inzwischen einen gemütlich aussehenden Sessel okkupiert und deutete auf einen kleinen Hocker, den er für mich auserkoren hatte.
Mein Freund war ein großer Mann von enormer Körperfülle. Viele sagten im Spaß, sein Bauch habe Maß und Form eines alten Portweinfasses. Seine Stirn war hoch, sein Haar, obwohl er erst Anfang fünfzig war, ebenso ergraut wie sein Bart. Reginald Lord Merridew konnte mithilfe seiner Augen regelrecht sprechen. Unter Zuhilfenahme seiner buschigen Brauen vermochte er mit einer großen Fülle unterschiedlicher Blicke sämtliche menschlichen Gefühlsregungen bis in die feinsten Nuancen auszudrücken, ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen. Das heißt nicht, dass er kein Mann vieler Worte war – ganz im Gegenteil. Er sprach gerne und laut, er rezitierte mit Vorliebe Shakespeare und war sich auch für beklagenswert alberne Wortspielchen nicht zu schade.
Darüber hinaus war er schon damals ganz ohne Zweifel einer der größten Detektive, die je auf unserer Insel gewirkt hatten. Und dieser Nimbus schien ihn in Verbindung mit einer Radiomeldung von heute Morgen enorm zu beschäftigen.
»Man muss sich das nur mal vorstellen: Ein amerikanischer Millionär namens Lionel Twain hat angeblich die berühmtesten Detektive der Welt auf seinen Landsitz eingeladen, um einen Mord aufklären zu lassen.« Er stieß fast beiläufig mit dem Champagner an und trank so uninspiriert, als sei es Sodawasser. »Soll ich Ihnen die Gästeliste verraten, Nigel?«
Meine Antwort wartete er nicht ab.
»Milo Perrier, Sidney Wang, Jessica Marbles, Sam Diamond und Dick und Dora Charleston! Ha! Ich frage mich, womit dieser Komiker seine Millionen gemacht hat! Mit Scherzartikeln? Das sollen die größten Detektive der Welt sein? Da muss ich aber eine ganze Menge von dieser Brause in mich hineinkippen, bevor ich darüber lachen kann!«
Mit dem nächsten Schluck war sein Glas auch schon leer.
»Ich hatte gehofft, das Stück würde Sie ein bisschen von Ihrem Ärger ablenken«, sagte ich. »Es schien mir so, als seien Sie genau deswegen mit mir hierher gegangen.«
Er rümpfte die große Adlernase. Ein wenig schief gewachsen war sie, was angeblich das Resultat einer Begegnung mit einem Cricketschläger oder einem Pferdehuf in seiner Jugend war. Es gab mehrere Varianten dieser Geschichte.
»Kennen Sie Archibald Benjamin Carruthers?«, fragte er.
Ich dachte einen Augenblick nach. Seit ein paar Jahren arbeitete ich als Anwalt in der Kanzlei Harringfield, Harringfield und Partner. Wobei ich die Hoffnung hegte, dass irgendwann einmal statt der anonymen Formulierung »Partner« mein Familienname Bates auf dem Schild stehen würde und dass der eine, sehr alte Harringfield und der andere, noch wesentlich ältere Harringfield beide nicht mehr unendlich alt werden würden.
Möglich, dass mir in einem unserer Gerichtsverfahren mal ein Carruthers begegnet war, aber ich konnte mich nicht erinnern. Ich zuckte mit den Schultern.
»Carruthers ist Professor für Englische Literatur am Merton College in Oxford.«
»Kenne ich nicht, bedaure. Was hat er mit dem Stück zu tun?«
»Seinetwegen sind wir hier.«
Um uns herum plauderten die Leute über belanglose Dinge. Sie scherzten und lachten, und sie spekulierten darüber, wie es mit dem Kriminalstück wohl weitergehen würde. Ich hatte in dieser Hinsicht keine Vermutung. Es schien mir sehr trickreich ausgetüftelt worden zu sein.
Irgendwo in einer Ecke saß Agatha Christie, die Autorin, zusammen mit ihrem Mann, der angeblich extra von irgendeiner Ausgrabung im Vorderen Orient zurückgekehrt war und dem Produzenten Peter Saunders und sah sich von tausend neugierigen Fragen bestürmt.
»Wir sind nicht wegen des Kriminalstücks hier?«, hakte ich bei Merridew nach.
Ein verächtliches Lächeln umspielte seine Lippen. Er reckte das bärtige Kinn vor. »Sie kennen mich jetzt schon etwas über ein Jahr, und wir konnten bereits ein paar vergnügliche Kriminalfälle miteinander lösen. Glauben Sie, eine von vorne bis hinten ausgedachte Mördergeschichte würde für mich eine adäquate Abendunterhaltung darstellen? Nein, im Ernst, mein alter Knabe, ich brauche keine Ablenkung. Meine Laune ist bestens, auch wenn es nicht so scheint. Die Tatsache, dass man mich nicht zu dieser Mörderhatz in Amerika eingeladen hat, sagt mir im Grunde genommen nur eines: nämlich, dass man meinen messerscharfen Verstand und mein überragendes Deduktionsvermögen so sehr fürchtet, dass man Angst hat, ich könnte den anderen allzu schnell den Spaß verderben, weil ich ihnen haushoch überlegen bin. Wenn man die zweite Riege einbestellt, wäre es doch wirklich mehr als töricht, den Besten der Besten dazu zu nehmen.«
»Das wird es sein«, sagte ich ein wenig peinlich berührt. Ich kannte sein übergroßes Ego nur zu gut. »Und weshalb sind wir nun hier, wenn nicht wegen des Stücks?«
»Aufgepasst, Nigel, alter Freund: ich werde heute Abend einen Mordfall aufklären! Und weil ich so gut in Schwung bin, sofort noch einen zweiten dazu! Und um diesen Elendswürmern jenseits des großen Teichs einen ordentlichen Schuss vor den Bug zu verpassen, werde ich sogar noch einen dritten Mord verhindern!«
»Drei Morde? Und das alles heute Abend?«
Er warf sich in die Brust und grinste selbstzufrieden. »Sogar noch vor dem zweiten Akt, mein lieber Nigel. Los, noch rasch ein Glas Champagner, bevor die Pause zu Ende ist.«
Beim zweiten Mal ging es schneller. Als ich von der Bar zurückkehrte, hatte Merridew einige Zeitungsausschnitte aus seiner Jacketttasche hervorgekramt und vor sich auf den runden Tisch gelegt.
»Ausschnitte aus einer Zeitung? Ich bin gespannt, was Sie mir erzählen wollen.«
Wir prosteten uns zu, und er begann mit seiner Erklärung, indem er mit seinem dicken rechten Zeigefinger auf einen der kleinen Papierstreifen tippte:
Gonzago an ABC 6. Oktober – Gedanken schwarz, Gift wirksam, Hände fertig.
Ich sah ihn neugierig an. »Das sagt mir nichts. Aber Sie konnten sicherlich gleich etwas damit anfangen, vermute ich.«
»Sie kennen mich. Solche kryptischen Verlautbarungen machen mich neugierig. Ich muss erwähnen, dass diese Anzeige erst vor drei Wochen in der Times erschien. Ich habe sogleich Erkundigungen eingezogen und in Erfahrung gebracht, dass sie in Manchester aufgegeben wurde. Von wem ist nicht bekannt. Es wurde in bar bezahlt.«
Neugierig versuchte ich zu erkennen, was in den anderen beiden Annoncen stand. Merridew schob sie mir eine nach der anderen hin.
Gonzago an ABC 6. Oktober