Die Synode bemüht sich unübersehbar, in dieses klassische Bild katholischer Ehe- und Familienlehre Elemente des Prozesshaften und Graduellen einzubauen. So wenn von einer „Stufenleiter der Zärtlichkeiten“ im „Vorraum der vollen sexuellen Gemeinschaft“ die Rede ist und alle Stufen dieser Leiter „als gut und richtig gelten“ können, „solange sie Ausdruck der Vorläufigkeit sind und nicht intensiver gestaltet werden, als es dem Grad der zwischen den Partnern bestehenden personalen Bindung … entspricht.“ (3.1.3.3.) Man mischt sich auch nicht mehr allzu sehr in die Fragen der konkreten Gestaltung und Praktiken innerehelicher Sexualität ein,144 wenn es auch noch ein Reflex auf genau diese Regulierungen ist, wenn die Synode erklärt, dass „alle jene natürlichen Handlungen als gut und richtig angesehen werden, die der Eigenart der beiden Partner entsprechen und in gegenseitiger Achtung, Rücksichtnahme und Liebe geschehen“ (2.2.1.3.).
Vor allem aber rekurriert der Beschluss an drei ebenso signifikanten wie prekären Stellen auf die Kategorie des Gewissens: bei der Frage der Empfängnisverhütung und der dazu legitimen Methoden, bei den Fragen vorehelicher Sexualität und beim Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen. In der nach Humanae vitae und der „Königsteiner Erklärung“ (1968) ziemlich erhitzten Diskussionslage erklärt die Synode, dass „die Eltern die jeweils verantwortbaren Konsequenzen aus einer sicher nicht leichten Gewissensentscheidung über die Zahl ihrer Kinder“ unter Berücksichtigung aller Fakten ziehen müssten. Und in einer klassischen Kompromissformulierung fährt man fort:
Das Urteil über die Methode der Empfängnisregelung, das in die Entscheidung der Ehegatten gehört, darf nicht willkürlich gefällt werden, sondern muß in die gewissenhafte Prüfung die objektiven Normen miteinbeziehen, die das Lehramt der Kirche vorlegt. Die angewandte Methode darf dabei keinen der beiden Partner seelisch verletzen oder in seiner Liebesfähigkeit beeinträchtigen. (2.2.2.3.)
Ähnlich beim vorehelichen Sex:
Es ist offensichtlich, daß der wahllose Geschlechtsverkehr mit beliebigen Partnern anders zu bewerten ist als intime Beziehungen zwischen Verlobten oder fest Versprochenen, die einander lieben und zu einer Dauerbindung entschlossen sind, sich aber aus als schwerwiegend empfundenen Gründen an der Eheschließung noch gehindert sehen. Dennoch können diese Beziehungen nicht als der sittlichen Norm entsprechend angesehen werden. Hier zu einer verantwortbaren Entscheidung zu verhelfen, ist vordringliche Aufgabe der Gewissensbildung. (3.1.3.4.)
Die ausgesprochen ausführliche Behandlung des Problems des kirchlichen Umgangs mit wiederverheirateten Geschiedenen – der Text verlässt hier den Gestus des „einen Sprechers“ und wechselt in ein offen kontroversielles und nicht entschiedenes Pro und Kontra – mündet in eine Bitte an die
Deutsche Bischofskonferenz, die dringend notwendige Klärung weiter zu betreiben und baldmöglichst ein Votum in dieser Frage an den Papst weiterzuleiten. Unabhängig davon bittet die Synode den Papst, eine pastoral befriedigende Lösung herbeizuführen. Dabei sollen die Anliegen der Anträge aufgegriffen werden, in denen pastorale Hilfen für die Gewissensentscheidung der wiederverheirateten geschiedenen Katholiken wie der sie beratenden Priester enthalten sind. (3.5.3.1.)
Damit endet übrigens der eigentliche Text des Synodenbeschlusses, es folgen „Voten, Anordnungen, Empfehlungen“.
Während diese Konfliktkonstellation zwischen „Gewissensfreiheit“ und „objektiver Norm“ bis heute anhält, sind einige weniger bedeutende Positionen des Synodenbeschlusses deutlich vom Kontext der 1970er Jahre geprägt, so die Zurückhaltung gegenüber dem „Zerrüttungsprinzip“ (3.4.2.3.) im bürgerlichen Scheidungsverfahren, das in Deutschland kurz nach der Synode (1976) rechtlich das „Schuldprinzip“ ablöste. Ähnliches gilt von der eher vorsichtigen Bejahung der damals noch heftig umstrittenen schulischen Sexualerziehung (3.1.1.2.1).
Das aber bedeutet: Der Synodenbeschluss repräsentiert bis heute normativ so ziemlich die Avantgarde kirchlicher Familien- und Ehelehre, insofern er eine gewisse Gradualität in die moralische Betrachtung sexueller Praktiken einführt, zudem die Kategorie des Gewissens in der individuellen moralischen Abwägung stark macht und drittens die konziliare Option „Pastoral vor Moral“ im Umgang mit jenen, die den normativen Vorgaben nicht entsprechen, einfordert. Das ist nicht wenig und der Kommentar von Franz Böckle145 belegt, wie viel Mühen und Anstrengungen es kostete, dies zu erreichen. Lebensformen, wie sie damals tatsächlich noch sehr marginalisiert nur existierten, heute aber in gesellschaftlicher Normalität existieren, etwa „Living Apart Together“146, homosexuelle Lebenspartnerschaften oder „Patchwork-Familien“147, kommen so naturgemäß nicht oder nur als negative Abweichung vom Ideal in den Blick.
3 Wie weiter?
3.1 Signifikante Problemfelder katholischer Ehe- und Familienpastoral
Und dennoch: Maria Widl hat Recht, wenn sie schreibt, dass sich „heute die kirchliche Lehre über die Ehe und Sexualmoral als das bei weitem größte allgemeine pastorale Problem“148 erweise. Offenkundig bezieht sich die katholische Familien- und Ehelehre zumindest in ihren offiziellen Verkündigungen und rechtlichen Regelungen noch weitgehend auf die auslaufende „Normalität“ vergangener, extern stabilisierter Biografie- und Beziehungsmodelle. Sie wirkt daher wie der apologetische Legitimationsdiskurs einer vielleicht heute noch ersehnten, aber immer seltener noch möglichen konsolidierten Ehe- und Familienstruktur.
Aus pastoraltheologischer Perspektive entwickelt die offizielle katholische Ehe- und Familientheologie selbst in der moderat reformierten Fassung der Würzburger Synode ausgesprochen problematische Konsequenzen. Zum einen wirkt die katholische Ehe- und Familienlehre als kirchliches Distanzierungs- und Entfremdungssignal. Wenn in den Ballungsräumen jede zweite, auf dem Land jede dritte Ehe geschieden wird, dann bedeutet dies, dass mittelfristig die allermeisten Menschen entweder selbst oder im familiären Nahbereich mit der Erfahrung kirchlicher Rechtsminderung von wiederverheirateten Geschiedenen149 oder (wenn auch kaum mehr exekutiert) nicht-ehelich Zusammenlebenden konfrontiert werden. In Zeiten, da kirchliche Partizipation unter den dauernden Revisionsvorbehalt auch der aktiven Kirchenmitglieder geraten ist, bedeutet dies für eine immer größere Zahl von Menschen ein von der Kirche ausgehendes Distanzsignal.
Die Kluft zwischen strikter Doktrin und kirchlichen Rechtsvorschriften einerseits und real davon weit abweichender Praxis andererseits wirkt zudem, wie alle allzu breiten Theorie-Praxis-Klüfte, entplausibilisierend auf die kirchliche Lehre im Bereich von Ehe und Familie, aber zunehmend auch auf kirchliche Lehren überhaupt. Diese Kluft hat offenbar jene Grenze schon länger überschritten, bis zu der Norm-Praxis-Abweichungen durchaus versöhnend, friedensstiftend und realitätsadäquat wirken können.
In der lehramtlichen Ehe- und Familienlehre herrscht zudem trotz aller „Verflüssigungsversuche“ in Richtung Gradualität und Prozesshaftigkeit weitgehend dann doch noch die alte statisch-idealistische, dabei stark juridische Auffassung familiarer und ehelicher Beziehungsrealitäten, wie sie früheren sozialen Formationen durchaus entsprach, heute aber nicht mehr der Wirklichkeit entspricht. Aus der Perspektive der Betroffenen erscheint solch eine Lehre heute als legalistische Engführung und erweckt den Verdacht einer heteronomen Außensteuerung intimster menschlicher Realitäten, die den komplexen Wirklichkeiten von Ehe, Familie und überhaupt partnerschaftlichen Beziehungsstrukturen nicht gerecht wird.
Vom 12. Jahrhundert bis zum II. Vatikanum war bekanntlich für das innerkirchliche Verständnis der Ehe die Vertragstheorie prägend, also eine juridische Kategorie. Eine personale Beziehung brauchte dazu nicht vorhanden zu sein: Der Ehekonsens konstituierte einen Vertrag, der zentral das lebenslange und ausschließliche „Recht auf den Körper des anderen zum Zwecke der Zeugung“ umfasste. Wer dieses Recht darüber hinaus anderen einräumte, beging Vertragsbruch und handelte schwer sündhaft. Diese Lehre ist bis heute die kaum modifizierte Grundlage der kirchenrechtlichen und lehramtlichen