Nomade. Jörg Juretzka. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jörg Juretzka
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783867898454
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gab Spaghetti, mal wieder, gefolgt von Opiumdampf und Pfefferminztee. Die Mondsichel wanderte den Himmel hoch, tauchte das Wadi in fahles Licht, und ohne Wind war die Stille vollkommen. Ich holte mein SatPhone raus und schickte die traurigen Neuigkeiten zusammen mit den Geo-Koordinaten nach Lausanne. Ein halbe Stunde später kam die bange Frage, ob ich mir sicher sei, was ich mit einem bedauernden Ja beantwortete. Danach kam nichts mehr außer bestürztem Schweigen. Kristof ›Hiob‹ Kryszinski, auch ›Bad News‹ genannt. Fünf Tage unterwegs und vier gefundene Leichen waren ein neuer persönlicher Rekord, wenn auch kein richtiger Grund zum Feiern. Sitzen und Grübeln half allerdings gar nichts, deshalb rief ich Bella und wir wanderten noch mal ein Stück das Wadi hoch, durch eine von reißenden Fluten surreal geformte Landschaft in vergänglicher Blüte, monochrom im Mondschein, bis es irgendwann Zeit wurde für die Koje.

      Die Sonne weckte mich, wie üblich, zu Bellas uneingeschränkter Begeisterung, und während unserer Morgenrunde zog ich Bilanz, versuchte meine gedrückte Stimmung zu verscheuchen. Ich hatte niemanden auf dem Gewissen, ich hatte nur gesucht, gefunden, Meldung gemacht. Haken dahinter. Mehr war von mir nicht zu erwarten, mehr gab es nicht zu tun, nichts weiter dazu zu sagen. Die kommenden Tage konnte ich mich treiben lassen, musste nur den Spritverbrauch im Auge behalten, alles andere war in beruhigendem Maße vorhanden. Also. Rückkehr zur Normalität.

      Nach dem Frühstück blickte ich dem Truck unter die linke, dann die rechte Seite der schmalen Schnauze, füllte Öl und Kühlwasser nach, holte den Luftfilter aus seinem Gehäuse, blies ihn aus und setzte ihn wieder ein, warf einen kritischen Blick auf die Keilriemen und den generellen Zustand aller Kabel und Leitungen, fand nichts, was mein Eingreifen nötig gemacht hätte, und verriegelte die Klappen wieder. Zog den spiralförmigen Druckschlauch in die Länge, einmal ums Auto, und brachte die Reifen wieder auf ihren normalen Luftdruck. So.

      Brenner und Senfglas standen noch auf dem Klapptisch, und die Versuchung, den Rest des Tages im Tran zu verdödeln, kam und ging. Ich räumte alles rein, machte den Truck startklar. Der Gedanke, den zerstörten Aufbau des Unimogs noch kurz nach Wertsachen zu durchsuchen, kam, und verging ebenfalls. Irgendwas entdeckt man fast immer, doch ich war nicht in der Stimmung, hatte nicht das Gefühl, etwas finden zu können, an dem ich anschließend echtes Vergnügen haben würde.

      Weg hier. Nur raus aus dem Wadi. Selbstverständlich wirkt es höchst unwahrscheinlich, dass ein Wüstenflusstal, das nur alle Jubeljahre mal für kurze Zeit Wasser führt, in zwei Wochen gleich zweimal hintereinander durchflutet wird, doch ist die Risikobewertung in dieser Hinsicht eine Bitch: Ist eine Flut durch, ist die Chance, von einer erneuten Welle überrascht zu werden, wieder genauso hoch oder niedrig wie vorher. Es ist, unter umgekehrten Vorzeichen, wie beim Lotto: Niemand hält es für möglich, dass zweimal hintereinander dieselben Zahlen gezogen werden, und doch kannst du jede Woche hingehen und die Zahlen der letzten Ziehung ankreuzen, ohne dass es deine Chancen auf einen Hauptgewinn auch nur um ein Jota schmälert.

      Also, weg hier. Nur eins, eins musste noch sein: Ich holte den Zinkeimer raus, scharrte mir damit eine schöne, große, tiefe Mulde in den Boden, sah zu, wie sie voll Wasser lief, zog mich aus, hockte mich nackt in die sandige Brühe und gönnte mir eine gründliche Wäsche, etwas, das bei Wüstenreisen nur allzu leicht zu kurz kommt. Und, einmal dabei, noch eine Rasur. Bisschen wie vor einem Date. Eau de Toilette? Wo hab ich’s nur …?

      Jetzt aber. Frische Plörren an, der Mann wie neu, weg hier. Fehlte nur … Bella. In der Mulde, auf dem Rücken, in leichter Wälzbewegung, Zunge halb aus dem Maul, alle Viere hoch in die Luft gestreckt, wohlig grunzend wie eine dicke, glückliche, graue Sau.

      Ich geb’s dran, dachte ich. Soll sich doch jemand anders um die Verschwundenen kümmern, sich mit ihren Leichen belasten. Ich will nur noch meine Ruhe, meinen Frieden, meine Freiheit. Und ab und zu mal eine schöne Suhle.

      Die Fahrerkabine durchweht vom Duftstoff ›Chien Mouillé‹, rollten wir das Wadi abwärts, bis es in der Ebene in die Breite ging und verschwand. Nur ein paar angeschwemmte Kakteen markierten noch den äußersten Rand der Flut, bis hierhin war sie gekommen, um dann endgültig im Boden zu versickern.

      Meine generelle Richtung war zurück nach Tamanrasset, von da vielleicht ins Hoggar-Gebirge oder in die Ténéré, ich war noch unentschlossen, hatte aber auch keine Eile. Ich passierte unseren vorgestrigen Übernachtungsplatz, umrundete die Spitze des Gebirgsausläufers, besah mir die Gegend östlich davon. Eine milde gewellte, durchgehend hell ockerfarbene Dünenlandschaft bedeckte das halbrunde Becken mit seiner fernen Peripherie aus dunkelbraunem Gestein. Neigung und Höhe der Dünen machten einen durchaus befahrbaren Eindruck, doch ich wusste nicht recht, was ich wollte, oder wohin. Gleichzeitig stand die Sonne im Zenit, knallte nur so aufs Dach, da bot es sich an, eine Pause einzulegen und die Entscheidung zu verschieben. Nichts trieb mich, nichts konnte mich zwingen. Ich parkte den Truck zwischen Felsen, kochte mir einen Tee, suchte und fand einen gangbaren Weg hinauf auf das zerklüftete Gestein, setzte mich oben in den Schatten eines großen Brockens, schlürfte Tee und ließ den Blick schweifen. Die Mittagshitze sog Sandwirbel in die Höhe, die für kurze Zeit über die Ebene taumelten, bevor sie wieder in sich zusammenfielen. Bella gesellte sich zu mir, gähnte ansteckend, streckte sich aus und schloss die Augen. Ansteckend, wie gesagt.

      Ich hörte Stimmen. Im ersten Moment war ich mir sicher, dass ich träumte, im zweiten, alarmiert, dass nicht. Ich war wach, und jemand rief irgendwas Fragendes. Ich stand auf. Blickte runter zum Truck. Ein weißer Toyota Pick-up parkte dahinter. Er parkte so, dass er meinen Truck zwischen den Felsen fest­nagelte. Jemand sah mich, jemand winkte mir. Mit einem Sturmgewehr. Ja, Scheiße.

      Es waren die ersten Lebenden, die ich seit fast einer Woche traf, doch meine Begeisterung darüber hätte nicht bescheidener ausfallen können. Sie waren zu dritt, ein sehr junger Weißer, der mich fatal an Sid Vicious erinnerte, ein sehr junger Schwarzer, den ich auch ohne nur die geringste Ähnlichkeit mit dem Punksänger ungerechterweise Johnny Rotten taufte, und ein Dritter, den ich nur als Schemen auf dem Beifahrersitz sehen konnte. Die Youngster waren beide unterernährt, bewaffnet mit AKs – was sonst? – und machten einen wie auch immer gehetzten Eindruck. Leute unter Schock, auf der Flucht, Zeugen oder Beteiligte von etwas Dramatischem, so was in der Art. Aufgekratzt, mit unsteten Blicken in Augen, die für ihre jungen Jahre schon zu viel gesehen hatten, kurz angebunden, mit äußerster Vorsicht zu behandeln. Ich trat zu ihnen, Bella dicht an meinem Bein, auch sie angespannt. Wenn ihr eine Situation nicht behagt, gibt sie ein Knurren von sich, so tiefgestimmt, dass man es mehr spürt als hört.

      »Wir brauchen deine Hilfe«, sagte Sid sachlich in einem Cockney-gefärbten Englisch.

      Ich nickte ein Nicken, das Verständnis seiner Worte signalisieren, aber nichts darüber Hinausgehendes versprechen sollte. Schwierig, ich weiß. Sinnlos, obendrein. Egal, was sie vorhatten, egal, was sie von mir wollten, ich hatte keinen wirklichen Verhandlungsspielraum.

      Johnny hockte sich auf einen Felsen und behielt mich und Bella abwechselnd in nervösem Blick. Er schien nicht viel zu sagen zu haben.

      »Du bist nicht zufällig Arzt?«

      Ich schüttelte energisch, geradezu kategorisch den Kopf. Es nutzte mir nichts. Sid winkte mich mit sich zur Beifahrerseite des Pick-ups, wo der Dritte bei offener Tür saß. Die ganze rechte Flanke des Wagens entlang zog sich eine Spur von Einschusslöchern, die Ränder frisch und silbergrau, wo es den weißen Lack weggefetzt hatte. Ich begann zu verstehen. Kaum etwas rüttelt einen so durch wie unter Beschuss zu geraten.

      Der Mann auf dem Beifahrersitz war schon älter, ach was, er war alt. Ein hageres, tief zerfurchtes Gesicht, ungesund bleich unter der dunkelbraunen Haut, ums Kinn ein mit Grau durchsetzter, dichter Gabelbart, eine Fellmütze auf dem Kopf, und das bei diesen Temperaturen. Afghane, ich war mir fast sicher. Er wandte mir den Kopf zu, die Augen schmal, Mimik und Bewegung steif vor Schmerz. Er trug eine bestickte Weste über einem bauschigen weißen Hemd, dazu eine Containerhose in Camouflage. Weste, Hemd, Hosenbund und selbst der Sitz darunter waren schwarz vor Blut, das offenbar weiterhin aus einer nicht sehr gekonnt verbundenen Verletzung an der linken Schulter quoll. Kein Wunder, dass er so bleich aussah.

      »Ich fürchte, ich kann da nichts tun«, sagte ich ehrlich.

      Er versuchte zu sprechen,