Nomade. Jörg Juretzka. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jörg Juretzka
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783867898454
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      Das Rätselhafte war, dass die Schweizer augenscheinlich perfekt vorbereitet zu ihrer Exkursion aufgebrochen waren. Ein Fahrzeug mit Allesüberwinder-Qualitäten, eine Bevorratung für Wochen und eine tägliche Meldung bei ihrem Amateurarchäologen-Verein, der schon mehrmals ähnliche Expeditionen von Lausanne aus begleitet hatte. Die Vereinsmitglieder waren es, die um Hilfe gebeten und sämtliche Informationen zur Verfügung gestellt hatten, doch auch sie konnten trotz mehrfachen Nachfragens keine GPS-Kennung des Unimogs liefern.

      So blieb nur die letzte Positionsangabe der Züricher von vor ziemlich genau zwei Wochen. Nach fünf Tagen ohne Meldung hatten die Lausanner, wie vorher vereinbart, das Paar und den Unimog als vermisst gemeldet. Zwei Tage später war ein Suchtrupp von der Militärbasis in Timiaouine aufgebrochen, angeblich unterstützt von einem Flugzeug. Nach vier Tagen war die Suche ohne Ergebnis beendet worden. Immerhin. Wären es afrikanische Migranten gewesen, hätte man sich nur den Hintern gekratzt und die Schultern gezuckt. Doch nach Angehörigen der westlichen Industrienationen wird schon gesucht. Es gibt da einen gewissen Druck von den Botschaften auf die Regierung – Stichwort ›Reisewarnung‹ – und der wird weitergereicht an die Behörden der Provinzen und von da an die Vertreter in den nächstgelegenen Oasen. Die setzen jetzt nicht unbedingt Himmel und Hölle in Bewegung. Dazu mangelt es allzu oft an der rechten Begeisterung oder einfach nur an Empathie.

      Ich muss das erklären. Vor allem Individual- oder Abenteuerreisende sonnen sich gern in dem Interesse, das ihnen von den Wüstenbewohnern entgegengebracht wird, halten es nicht selten für Respekt, wenn nicht Bewunderung für ihren Mut und ihre Zähigkeit, mit denen sie sich einen Urlaub lang den Widrigkeiten der Sahara stellen, und übersehen dabei, dass die Leute einfach nur Zerstreuung suchen. Es ist scheiße langweilig in diesen isolierten Käffern, also lässt man sich bereitwillig auf Gespräche mit Auswärtigen ein, lauscht höflich ihren Angebereien und denkt sich seinen Teil dazu. Ich bin mir sicher, dass die meisten, mit denen ich hier Kontakt habe, innerlich den Kopf schütteln über das Streunerleben, das ich führe. Ein Typ, der aus einem Land kommt, in dem man nur einen Hahn aufdrehen muss, um an Wasser in beliebiger Menge zu kommen, anstatt es Eimer für Eimer aus einem tiefen Loch hochzerren zu müssen, der bequem zu Fuß zum Arzt oder zum Supermarkt gehen kann, der vom Staat fürs Nichtstun mehr Geld bekommt als ein algerischer Landarbeiter mit seiner tagtäglichen Wühlerei verdient – und der statt in diesem Luxus zu schwelgen lieber in einer rollenden Hundehütte haust und sich unablässig in der gottverfluchten Einöde her­umtreibt? Seid nett zu ihm, Kinder, aber haltet ein bisschen Abstand, denn er muss einen an der Waffel haben, der Gute.

      Wenn jetzt einer oder mehrere solcher Spinner verschüttgehen, dann ist das eben ihr Pech, vermutlich Schicksal, oder Allahs Wille, und da die Chancen, den oder die Vermissten zu finden, erfahrungsgemäß gering, Kosten, Strapazen und Risiken einer derartigen Suchaktion aber nicht zu unterschätzen sind, reißt sich dafür niemand wirklich ein Bein aus.

      Nach dem ›Sorry, aber …‹ aus Timiaouine hatten die Lausanner auf Vermittlung des Zollchefs von Tamanrasset mich kontaktiert. Und ich war jetzt den dritten Tag unterwegs. Die Sache ist die: In den mittlerweile vierzehn Tagen hätten es die beiden zur Not auch zu Fuß nach Timiaouine schaffen können. Durch schwieriges, weil felsiges Gelände, sicher, aber felsig heißt auch, zumindest teilweise, schattig. Dass sie es nicht getan oder nicht geschafft hatten, ließ schon vermuten, dass etwas Ernsteres vorlag, eine fatale Mixtur aus Kommunikationsabriss und Immobilität.

      Gegen Abend stieg das Gelände leicht, aber stetig an, und Felsboden begann sich durch den Sand zu drücken. Überall in der Gegend standen, in höflichem Abstand zueinander, knorrige, blattlose Büsche. Die sinkende Sonne stach mir in die Augen und machte es nicht leichter, die Sträucher zu umfahren. Überflüssige Sorgfalt, könnte man meinen, denn sie sehen tot aus, komplett verdorrt, trocken wie Zunder, doch das täuscht. Ich bin mal für drei Tage mit einem Defekt an der Spritpumpe in einer ähnlichen Gegend gestrandet, hab am Abend des ersten Tages mein Wasch­wasser neben solch einem Strauch ausgeschüttet, am nächsten noch mal, und als ich tags drauf endlich fertig war mit der Reparatur, hatten sich an sämtlichen Zweigen Knospen gebildet, aus denen leuchtend grüne Blätter ans Licht drängten. Man glaubt nicht, wie viel pflanzliches Leben sich hier im Wartestand befindet. Wenn der Passat Regenwolken im Gepäck hat, bleiben die gern an den Bergen hängen, entladen sich in heftigen Güssen. Ohne Wald, ohne Boden, um es aufzunehmen, rauscht alles Wasser die felsigen Hänge hinab, schießt unten in die Ebene und folgt dabei meist schon vorhandenen, häufig tief ins Gelände gespülten trockenen Flussbetten, ›Wadis‹ oder auch ›Oueds‹ genannt. Kaum ist das Wasser durch, pressen sich Blumen und Wildkräuter nur so aus dem Boden, füllen das gesamte Tal in kürzester Zeit mit Farben und Leben, bis ein paar Wochen später alles wieder verblüht, verdorrt, trockenfällt, manchmal für Jahre, manchmal Jahrzehnte, für schlicht und einfach unbestimmte Zeit. Unvorstellbar. Alles, was wir gedanklich mit dem Begriff ›Geduld‹ verbinden, die Flora der Wüste kann darüber nur müde lächeln.

      Wir fuhren bis in die Nacht hinein. Der Felsgrund neigte sich irgendwann wieder abwärts und wir legten noch ein paar gute, flotte Kilometer auf ebenem, festem Sand zurück, bis Bella unruhig wurde und ich den Truck auslaufen ließ.

      Wir tippelten eine Runde unter den Sternen, dann füllte ich Bella den Napf und kochte Spaghetti. Goss das Wasser ab, teilte die Nudeln – eine Hälfte für Bellas Frühstück –, kippte die andere Hälfte in die Pfanne, mischte Olivenöl, Knoblauch, gehackte Chilischote und eine Handvoll kleingeschnippelter Trockenfrüchte darunter. Der Wind wehte mäßig, also baute ich Klapptisch und -stuhl draußen auf, nahm die Pfanne und ein Stück Fladenbrot mit hinaus und schaufelte mir mein Abendbrot rein. Ein schmaler Fingernagel-Mond zeigte sich am Horizont. Der Auspuff und andere heiß gewordene Teile des Trucks kühlten unter letzten, knackenden Geräuschen ab, danach herrschte Stille. Ich ging rein, wischte die Pfanne aus, verstaute sie in ihrer Lade, brühte mir einen Tee auf, kramte den kleinen Campinggas-Bunsenbrenner aus dem Schrank unter der Werkbank, riss einen Streifen Alufolie ab und schnappte mir ein Feuerzeug, einen gläsernen Strohhalm, ein kleines Küchenmesser und das Senfglas, packte alles draußen auf den Tisch. Windjacke, Jogginghose an, fläzte ich mich in meinen Campingstuhl, säbelte etwas bröckeliges Opium in die längsgefaltete Alufolie, brachte den Brenner zum Fauchen, hielt die Folie über die Flamme und saugte mir mit dem Trinkhalm den entstehenden Dampf in die Lunge. Bisschen heiß im Hals, bisschen bitter auf der Zunge, aber schon ein paar Minütchen später … aah. Jetzt der Tee. Perfekt.

      Die Milchstraße beherrschte den Himmel, das Erstaunlichste immer wieder, dass so viel Masse, so viel unbändige Energie in solcher Geräuschlosigkeit vonstattengehen kann. Satelliten rasten kreuz und quer von Horizont zu Horizont und so dicht über meinen Kopf, dass ich meinte, sie mit der Hand einfangen zu können. Ja, genau. Haha. Mit der Hand. ›Like a voodoo chile‹. Ich dampfte noch ein bisschen was. Tee war alle. Wenn schon.

      Bella leckte mir die Hand, schreckte mich auf. Zeit für den Abendspaziergang. Also denn. Vollkommen ebener Untergrund, vollkommener Frieden darüber. Absolutes Wohlbefinden.

      Zurück am Truck holte ich mir zwei Decken raus, legte eine auf den Boden, streckte mich darauf aus und wickelte mir die andere um den Balg. Lag da, meinen Hund an meiner Seite, den Blick in die Unendlichkeit gerichtet, nur zu bereit, im warmen Schlick des Schlafs zu versinken. Alle Reiseführer warnen davor, doch mit genug Opiat im Blut verliert dieses ganze krabbelnde, schleichende, haarige oder hornige, beißende oder stechende, giftige Getier sehr, sehr, sehr, sehr viel von seinem Schrecken. Alle Reiseführer warnen ja auch davor, das Wasser zu trinken, und …

      Die Sonne feuerte ihre ersten Strahlen hoch in den Himmel und quer über die Ebene, genau in mein Gesicht, voll auf die Zwölf. Ich kniepte ein Auge auf und nur eine Sekunde später füllte eine feuchte Hundezunge mein rechtes Ohr, gefolgt von freudigem Ge­hechel. Ich richtete mich auf, ausgeschlafen wie schon lange nicht mehr. Das Opium summte noch ein wenig in meinen Adern, doch nicht genug, um mich zu hindern, den neuen Tag mit einigem Elan anzugehen. Bella rannte vor, ich mit dem Spaten auf der Schulter hinterher, weit raus in die Ebene, wo ich mir völlig außer Atem ein Loch in den Boden stach, mich drüberhockte und … haarscharf daran vorbeischrappte, glubsch­äugig zu werden. Opium stopft, ich sag's euch.

      Ein hastiges Frühstück, Sachen zusammengepackt,