Unabhängig von dem Verdikt vieler Professoren hat in der pädagogischen Praxis eine lebhafte und vielgestaltige Rezeption dieser Ansätze stattgefunden. Diese hat neben vielen positiven Effekten mitunter auch gesteigerte Grade der Trivialisierung hervorgebracht. Das Aufgreifen der Teilnehmer- oder Schülerorientierung als Bemühung der Lehrenden, die lebensweltlichen Erfahrungen von Schülern ernst zu nehmen und zum Ausgangspunkt (oft auch Gegenstand) des Unterrichts zu machen, ist teilweise so weit gegangen, dass der Ruf nach Herausforderung der Schüler zu Kontrasterfahrungen und Abstraktionsanstrengungen heute kaum mehr als reaktionär gilt. Auch wurden die Rogersschen „Basisvariablen“ für eine hilfreiche Beziehung seit eh und je technizistisch verkürzt. Die TZI ist in so viele Bereiche von Gruppenarbeit eingedrungen, dass einem manches aus diesem gut durchdachten erfahrungsfundierten Ansatz in sehr verwässerter, gelegentlich auch geistlos formalisierter Form entgegentreten kann. Und bei der Gestaltpädagogik hat sich das erlebnisaktivierende Methodenrepertoire in der Rezeption von den vorrangig zu erwerbenden persongebundenen Kompetenzen oftmals abgelöst, so dass ihre Leistungen mitunter als ein bloßer Beitrag zur Kreativitätskonjunktur wahrgenommen werden. Für umso notwendiger halte ich es, die einzelnen Ansätze wie die Humanistische Psychologie insgesamt von ihren wesentlichen Leistungen und wegweisenden Impulsen her zu würdigen und die Formen ihrer Rezeption einer differenzierenden Kritik zu unterziehen.
4. Zur Bedeutung der Humanistischen Psychologie für mich persönlich
4.1 Ich beginne mit dem historischen Kontext ihres Entstehens, verbunden mit den biographischen Erfahrungen der meisten der Hauptvertreter dieser Gruppe.
Bis auf Abraham Maslow, Carl Rogers und Rollo May waren alle führenden Vertreter und Pioniere der Humanistischen Psychologie aus Deutschland bzw. Österreich emigrierte Juden. Das gilt für Ruth Cohn ebenso wie für Erich Fromm, für Fritz und Lore Perls, für Viktor Frankl, Jakob Bugental, Charlotte Bühler oder Bruno Bettelheim, dessen Werk viele Berührungspunkte mit der Humanistischen Psychologie aufweist. Sie haben mit dem Ansatz der Humanistischen Psychologie als Entkommene oder Überlebende des Holocaust und als Psychotherapeuten auf ihre Weise auch eine Antwort zu geben versucht auf die Frage: Was ist der Mensch, und was können wir tun, damit er sich zum Guten hin entwickeln kann? Während Theodor W. Adorno etwa in seiner berühmten Rundfunkrede von 1967 unter dem Titel „Erziehung nach Auschwitz“3 die Auffassung vertritt, nach Auschwitz könne man nicht Liebe predigen oder sich um Liebe bemühen, sondern man müsse seine Anstrengungen darauf richten, „der Kälte zum Bewußtsein ihrer selbst“ zu verhelfen und sich der Erforschung des Seelenlebens der Täter zuwenden, gehen die Pioniere der Humanistischen Psychologie als Psychotherapeuten einen anderen Weg. Sie versuchen, nicht nur den Menschen „neu zu denken“, sondern sich mit dem je Einzelnen auf eine Beziehung einzulassen, die alle Vormeinungen und Verallgemeinerungen besonders hinsichtlich der Bedeutung von ethnischer, nationaler oder religiöser Zugehörigkeit sowie alle vorgängigen Zielbestimmungen zu vermeiden sucht. Man kann darin auch den Versuch sehen, mit dem je einzelnen Menschen einen neuen Anfang zu versuchen, hinter Vorurteile, gesellschaftliche Konventionen, Wertmaßstäbe und Zwecksetzungen zurückzugehen und sich mit dem Risiko der ganzen Person für neue, entwicklungsfördernde Erfahrungen in der Intersubjektivitätsbeziehung einzusetzen.
Damit ist dieser Ansatz mit seinem z. T. betont positiven Menschenbild für mich nicht nur Ausdruck eines gewissen amerikanischen Optimismus - das ist er auch, zumal bei Rogers und Maslow - sondern zugleich Ausdruck der erstaunlichen konstruktiven Möglichkeiten des Menschen zur Überwindung eigener tiefer traumatischer Verletzungen und einer Gut und Böse polarisierenden Sicht auf den Menschen. Die Humanistischen Psychologen sind nicht, wie Adorno, darauf aus, den Menschen zu analysieren und über sich selbst kritisch aufzuklären, sondern sie sind bereit, sich mit ihm neu einzulassen.
Das ist mehr als nur eine abstrakte ethische Entscheidung; diese Bereitschaft hat auch Konsequenzen für die Erkenntnisse, die dabei gewonnen werden.
Erik Homburger Erikson (auch ein Emigrant mit teilweise jüdischer Herkunft), der in vielen seiner Auffassungen zwischen Psychoanalyse und Humanistischer Psychologie steht, hat seine Grundüberzeugung mit Blick auf die experimentelle psychologische treatment-Forschung, in der Affen in die Psychose getrieben wurden, einmal so formuliert:
„Man kann das Wesen der Dinge untersuchen, indem man ihnen etwas antut, aber über die eigentliche Natur lebender Wesen kann man nur etwas lernen, wenn man etwas mit ihnen oder für sie tut“4
Ein positives Beispiel aus der Tierforschung dafür, dass eine solche Auffassung zu einer höchst produktiven Erkenntnishaltung führen kann, sind Konrad Lorenz’ Forschungen an Graugänsen, zu denen er in eine ernsthafte und respektvolle soziale Beziehung trat. Für die dabei gewonnene bahnbrechend neue Sicht auf das Verhalten von Tieren wurde er Ende der 60er Jahre mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.
Die Pioniere der Humanistischen Psychologie, denen selbst in ihrer Mehrzahl direkt oder indirekt Schlimmstes angetan worden ist, reagierten auf diese Erfahrung, indem sie einen radikal anderen Beziehungsmodus dem je einzelnen Menschen gegenüber nicht nur einforderten, sondern selbst zu leben und in ihr berufliches Handeln zu integrieren suchten. Sie haben damit einen wegweisenden Impuls gegeben.
4.2 Ein weiteres Moment, das mir persönlich an diesem Ansatz wichtig ist, ist der Mut zur ungeschützten Offenheit für den in der eigenen konstruktiven Entwicklung blockierten Anderen. Das setzt voraus, dass der veränderte Beziehungsmodus zunächst und vor allem sich selbst gegenüber realisiert werden muss. Ungeachtet der Notwendigkeit einer sekundären Einbettung in eine professionelle Methodik besteht hierin meines Erachtens ein entscheidendes Kernstück des humanistisch-psychologischen Ansatzes. Dies ist eine Aufgabe von so hohem Anspruch an die personale Integrität, dass gerade dieses Moment sich der Trivialisierung - wie aber auch der Sicherung durch Methode - entzieht. Fasst man die von Rogers herausgearbeiteten Grundelemente einer hilfreichen Beziehung - also Wertschätzung, Empathie und Kongruenz - auf als Aspekte einer Begegnungshaltung im Buberschen Sinne, so wird deutlich, dass es sich um Haltungen handelt, die ihre Wirksamkeit in der existentiellen Aufrichtigkeit eines Subjekts haben, das sich selbst körperlich, seelisch und geistig wahrnimmt und ungeschützt in die Beziehung einbringt. Ich zitiere zur Veranschaulichung eine Ausführung des späten Rogers zur Kongruenz, die er als wichtigste Bedingung für eine entwicklungsfördernde Beziehung ansieht.
„Je mehr der Therapeut in der Beziehung er selbst ist, d.h., kein professionelles Gehabe und keine persönliche Fassade zur Schau trägt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß sich der Klient äußern und auf konstruktive Weise wachsen wird. Das bedeutet, daß der Therapeut offen die Gefühle und Einstellungen darbietet, die ihn im Augenblick bewegen. Der Begriff der Transparenz wird diesem Sachverhalt gerecht:
Der Therapeut macht sich dem Klienten gegenüber transparent; der Klient kann ohne weiteres sehen, was der Therapeut in der Beziehung