4. Beziehungen sind niemals dual: Wie wir gesehen haben, gibt es immer eine(n) Dritte(n), dem gegenüber sie offen sind und der sie beschränkt.
Temporal: Zeit und Raum werden gemeinsam von der PatientIn und von der TherapeutIn geschaffen. Die TherapeutIn passt sich an die Raum-Zeit der PatientIn an und verändert sie (durch den Aufbau gemeinsamer Erfahrung). Je fragiler der Hintergrund der PatientIn ist (und je größer dadurch ihr Leiden ist), desto mehr Verantwortung muss die TherapeutIn für die Bildung und Bewahrung der Raum-Zeit-Koordinaten der Beziehung übernehmen (Spagnuolo Lobb 2003a; Francesetti 2011). Die Zeit ist eine Komponente des/der Dritten. Sie verwurzelt und platziert die Beziehung in einer Geschichte und erstellt auf diese Weise ein Narrativ, das den Brückenschlag zum/zur Anderen ermöglicht. Im Grunde genommen kann ein Subjekt nur insofern Subjekt sein, als es Subjekt einer Geschichte ist. Zeit und Realität sind miteinander verbunden (Salonia 1992; Maldiney 2007). Die Beziehung verleiht der Zeit Bedeutung, doch umgekehrt verleiht auch die Zeit der Beziehung Bedeutung. Aus diesem Grund ist es möglich, eine zeitlich begrenzte Pathologie wie z. B. eine Stimmungserkrankung durch die Beziehung zu heilen (und sie nicht nur phänomenologisch zu verstehen).
Ganzheitlich: Das Leiden ist nicht nur geistiger Natur. Das Leiden der Beziehung wird vom Subjekt als Ganzes und durch sein Erleben wahrgenommen, das immer körperlich ist. Die Geist/Körper-Dichotomie ist eine neurotische Spaltung (Perls / Hefferline / Goodman 2006; Kepner 1993; Frank 2001; Salonia 1986; Spagnuolo Lobb 2004b). Außerdem ist das Leiden immer an der Kontaktgrenze phänomenologisch erkennbar, wo belebte Körper entstehen: Die Zwischenleiblichkeit ist die Dimension, in der sich das Leiden zeigt und wo man ihm begegnen und es heilen kann (Merleau-Ponty 1945; Salonia 2008a; Frank 2001).
Kreativitätsorientiert: Das Leiden einer Beziehung ist das Ergebnis von kreativen Anpassungen in einem schwierigen Feld. Ursprüngliche Kreativität kann verloren gegangen und zu einer fixierten Gestalt geworden sein. Trotz allem kann es sein, dass sie dem Leben des Menschen immer noch eine positive Bedeutung verleiht (Perls / Hefferline / Goodman 1994; Zinker 1978; Spagnuolo Lobb 1990, 2003b, 2005a). Dies wird bei der neurotischen Anpassung deutlich, bei der eine kreative Anpassung an irgendeinem Punkt im Leben eines Menschen zu einer reduzierten Anwesenheit an der Kontaktgrenze führt. Das psychotische Erleben ist anderer Natur. Eine Psychose ist der Ausdruck eines Mangels an Hintergrund. Hier ist es nicht das Ziel, die Bewusstheit für gestörten Kontakt wiederherzustellen und dadurch zu integrieren, mit dem Ergebnis, dass die Möglichkeit zu neuen kreativen Anpassungen wiederhergestellt wird: Vielmehr ist es hier die Aufgabe der therapeutischen Beziehung, einen Hintergrund zu schaffen, der bisher nicht existiert (Spagnuolo Lobb 2003a; Salonia 2001a; Conte 2001).14
Situationsbezogen: Das Leiden wird immer von der jeweiligen Situation bestimmt und entsteht aus dem Kontext heraus. Die Situation definiert die Psychopathologie nicht nur: Sie ist wesentlich an der Entstehung einer Psychopathologie beteiligt oder hilft, einen Menschen davor zu schützen (Robine 2011; Salonia 2007b; Gecele / Francesetti 2007). Beispielhaft dafür ist das berühmte Stanford-Gefängnis-Experiment (Zimbardo 2008).15 Es ist kontextabhängig, ob sich eine Art von Leiden (zum Beispiel ein narzisstisches Leiden oder Panikattacken) in selten auftretenden und isolierten oder endemischen und normalen Symptomen zeigt: Es kann geschätzt und belohnt werden oder es kann dem Menschen, der daran leidet, zum Nachteil gereichen. Salonia hat beobachtet, dass alle sozialen Kontexte das Entstehen eines »grundlegenden Beziehungsmodells« fördern, das in bestimmten historischen und kulturellen Umgebungen unterstützt und belohnt wird und das in diesem Kontext zur Beziehungsnorm wird (Salonia 2007b, 2008b).
Entwicklungs- und auf das Nächste hin orientiert: Jedes Leiden hat eine Geschichte, die den Schlüssel zu seiner Bedeutung enthält. Das Symptom ist die Spur, die die Vergangenheit im gegenwärtigen Beziehungsmodell im Hier und Jetzt hinterlassen hat. Von diesen Spuren haben besonders jene Gewicht für die Entwicklung des Selbst und damit für die Schwere der Störung, die in der frühen Kindheit hinterlassen wurden (Pine 1985; Salonia 1989b, 2001a; Stern 1985; Wheeler / McConville 2002, Spagnuolo Lobb 2003a; Righetti 2005; Mione / Conte 2004). Es gibt viele Ansätze, die versuchen, Forschungsarbeit auf dem Gebiet der Kindesentwicklung mit der Gestalttherapie zu verknüpfen (Salonia 1989b, 2001a; Frank 2001; Wheeler / McConville 2002; Spagnuolo Lobb 2011a). Dabei konzentrieren sie sich auf die Frage, wie die Fähigkeit der Kontaktnahme erworben oder nicht erworben wird. Nicht erworbene Fähigkeiten tauchen in der Therapie als Bedürfnis nach einem bestimmten und neuen Kontakterleben auf. Dies ist das Beziehungsbedürfnis, das die PatientIn in der Therapie stillen oder dessen sie sich bewusst werden und das sie anerkennen will. Dies ist ihre gestörte Kontaktintentionalität und gleichzeitig ist es ihre Geschichte und ihr nächster Schritt. Jedes Leiden hat sein Beziehungs-»Nächstes«, an dem es sich orientiert und das seine Bedeutung ans Licht bringt (Polster / Polster 1973; Salonia 1989c, 1992; Spagnuolo Lobb 2007c, 2008b). In ihrer Hilfestellung lässt sich die TherapeutIn von dieser grundlegenden Frage leiten: »Auf welches Beziehungserleben steuert die PatientIn zu?« Die Antwort auf diese Frage zeigt die Richtung der Therapie an. Beispielsweise trägt das narzisstische Leiden einen bedürftigen Anteil mit sich, der in der Vergangenheit in keiner Beziehung zum Ausdruck gebracht werden konnte. Im Kontakt wird dieser Anteil versteckt und ist von Scham überlagert – das »Nächste« in der therapeutischen Beziehung besteht darin, Bedingungen zu schaffen, unter denen dieser Anteil als Beziehungsbedürfnis hervortreten kann.
Ästhetisch: Das Kriterium, an dem gemessen wird, was gesund und was ungesund ist, ist beziehungsimmanent (siehe oben). Es ist ein ästhetisches Kriterium: Gesundheit bedeutet die Fähigkeit, eine Kontaktfigur zu schaffen, die elegant, hell, rhythmisch und harmonisch ist (Perls / Hefferline / Goodman 2006; Bloom 2003; Spagnuolo Lobb 2007c, 2007a; Robine 2006b). Man braucht keine externen Evaluationsmethoden, die auf einem Vergleich zwischen dem Geschehen und einer externen Norm als Bezugspunkt basieren (Perls / Hefferline / Goodman 2006): Es ist die ästhetische Schönheit der Kontaktnahme, die der TherapeutIn als Richtschnur dient. Die TherapeutIn achtet fortlaufend auf die Kontaktqualitäten und passt ihre Anwesenheit an der Kontaktgrenze kreativ an: Dies bildet die Einheit des diagnostischen und des therapeutischen Handelns (Perls / Hefferline / Goodman 2006; Bloom 2003). Indem sie die Spuren von Intentionalität und den Verlust der Spontaneität wahrnimmt, positioniert sich die TherapeutIn neu in der Beziehung, an deren Erschaffung und Heilung sie in jedem Moment beteiligt ist.
Dimensional statt kategorial: Der kategoriale Ansatz definiert eigenständige, strikt voneinander getrennte Kategorien, die als objektive Identität gegenüber pathologischen Situationen oder Individuen fungieren. Der dimensionale Ansatz unterscheidet sich von dieser Herangehensweise, indem er Leidensphänomene als sich in einem Kontinuum befindliche Größen betrachtet. In diesem Kontinuum gibt es keine klaren Grenzen zwischen Gesundheit und Krankheit (APA 1994; Barron 1998). Alle Erfahrungen und alle Beziehungen sind mehrdimensional. Je nach Lebensmomenten und -situationen kann jeder Mensch eine narzisstische, Borderline-, depressive, süchtige, psychotische oder andere Dimension haben. Pathologie ist also kein klar definiertes Gebilde, das sich von einem gesunden Spektrum abgrenzen ließe. Menschen, die Hilfe suchen, sehen sich mit denselben existenziellen Themen konfrontiert wie wir alle – Liebe, Einsamkeit, Zeit, Tod. Der Unterschied liegt in der Möglichkeit oder Unmöglichkeit, sich die nötige Unterstützung nutzbar zu machen, um sein Leben zu meistern. Ein dimensionaler Ansatz kann in eine Perspektive integriert werden, die mit Schwellen für jede der verschiedenen Dimensionen arbeitet (Cancrini 2006). Von diesem Standpunkt aus kann sich zum Beispiel, abhängig von den Umständen, bei allen Individuen ein Borderline-Erleben manifestieren. Was bei den Menschen unterschiedlich ist, ist die Schwelle, bei der ein solches Erleben eintritt. Bei manchen Menschen ist diese Schwelle niedriger als bei anderen, sodass sich bei ihnen ein derartiges Erleben leichter manifestiert. Es kann also in jeder Situation oder Beziehung Borderline-, narzisstisches, psychotisches und anderes Erleben eintreten. In bestimmten historischen