Fließende Übergänge zwischen Theorie und Praxis
Gleichzeitig wäre eine dichotome, starre Gegenüberstellung von Wissenschaft/Theorie und Praxis/Erfahrung unterkomplex und nicht weiterführend (worauf auch Wittpoth verweist) – schon gar nicht für die didaktische Frage, wie Lehrkräfte mit der Vermittlungsaufgabe umgehen. Auf Systemebene zeigt sich einerseits, dass wissenschaftliches Wissen keinesfalls ausschließlich in Hochschulen oder Forschungseinrichtungen produziert wird (vgl. Faulstich 2015). Auch Unternehmen oder Bildungsanbieter sind zum Beispiel über die Beteiligung an Projekten in die Wissenschaftserzeugung einbezogen. Hochschulen sind nicht mehr ausschließlich die »Theoretiker« der Erzeugung von Wissen. Zudem bauen »Praktiker« selbst ein Erfahrungswissen und Kompetenzen auf, die externen Beobachtern oft unzugänglich bleiben, aber wertvoll sind, weil sie verallgemeinerbares, abstrahiertes wissenschaftliches Wissen kontextbezogen konkretisieren und fundieren können.
Andererseits ist die Wissenschaft sich selbst gegenüber viel umfassender reflexiv geworden. Sie macht sich selbst zum Gegenstand und erkennt die Vorläufigkeit und auch Interessengebundenheit ihrer »Befunde« (vgl. Faulstich 2015, S. 9). Es geht zwar immer noch um Wahrheit als Anspruch, aber was als Wahrheit zu gelten hat und wie man dazu kommt, ist höchst umstritten. Lineare Fortschrittsmodelle erweisen sich als Trugschluss. Zudem würde es fehlleiten, eine Einheitlichkeit von Wissenschaft zu unterstellen. Sicherlich besteht eine Einigkeit über übergreifende Anforderungen an Wissenschaft wie Transparenz, Begriffsklarheit und Nachvollziehbarkeit. Aber schon die Frage, wie diese Prinzipien konkret ausgelegt werden, ist wissenschaftlich umstritten. An der Nahtstelle wissenschaftlicher Weiterbildung treffen also nicht zwei abgrenzbare Blöcke – Theorie versus Praxis – aufeinander, sondern es ist von einer wechselseitigen Durchdringung und entsprechend von einem Kontinuum auszugehen, das die jeweilige Differenziertheit von Theorie und Praxis sichtbar und Übergänge deutlich werden lässt. Zudem ist die Differenz von Wissenschaftswissen und praktischem Erfahrungswissen nicht hierarchisch, sondern qualitativ zu denken.
Differenzierung von Wissensformen
In Hinblick auf didaktisches Handeln kann es trotzdem sinnvoll sein, analytisch unterschiedliche Wissensformen zu unterscheiden, um deren jeweilige prinzipielle Leistungsfähigkeit, aber auch deren Grenzen in den Blick zu bekommen (vgl. z. B. Dewe 1986; Keiner 1999). Es lassen sich drei Formen des Wissens unterscheiden und anhand unterschiedlicher Aspekte wie Funktion, Struktur, Begründung, Bezugskriterien, Leistungen und Grenzen näher kennzeichnen (vgl. Abb. 1).
Abbildung 1: Formen des Wissens (nach Vogel 1999 und Haberzeth 2010, S. 59)
Demnach dient Alltagswissen der Bewältigung von alltäglichen Problemen und Routineangelegenheiten (z. B. Erziehung durch Eltern), ist unsystematisch und zusammenhangslos, muss sich vor allem in der Praxis bewähren und hat seine Grenzen bei Krisen alltäglichen Handelns. Professionswissen beschreibt Wissen, das vorausgesetzt ist, um in einem Beruf kompetent handeln zu können. Es entspricht insbesondere dem Konsens über professionell übliche und anerkannte Verfahren, auch wenn diese von der Wissenschaft möglicherweise problematisiert werden. Wissenschaftliches Wissen zielt auf eine systematische Erfassung eines Gegenstandsbereichs (z. B. Recht, Politik) und baut dazu einen systematischen Zusammenhang von Wissensbeständen auf. Konstitutiv ist der Wahrheitsbezug, ungeachtet praktischer Verwertungsmöglichkeiten. Diese Wissensform hat zwar einen höheren Gewissheitsgrad, weil sie methodisch kontrolliert erzeugt wird, gleichzeitig ist sie aber auch unsicherer, weil sie immer wieder infrage gestellt und revidiert wird. Dabei sind die Grenzen zwischen den Wissensformen keinesfalls scharf, und es lassen sich Durchdringungen feststellen: So ist zum Beispiel wissenschaftliches Wissen übergreifend von Belang. Alltagswissen ist zum Teil schon wissenschaftssprachlich gefasst und von Versatzstücken wissenschaftlichen Wissens durchdrungen. Und berufliches Handeln in modernen Berufen ist auch gekennzeichnet durch Bezüge auf Wissenschaftswissen.
Eine solche analytische Unterscheidung kann dabei helfen, spezifische Leistungen von Wissensformen in den Blick zu bekommen: Im beruflichen Handeln bauen sich professionelles Erfahrungswissen und Kompetenzen auf, die Handlungsfähigkeit auch unter Druck und in komplexen beruflichen Situationen ermöglichen. Sie basieren auf vielfältigen, nicht nur kognitiven, sondern auch sinnlichen und emotionalen Erfahrungen. Eine solche Erfahrungsmöglichkeit bleibt externen wissenschaftlichen Beobachtern zumeist verschlossen. Von daher kann professionelles Erfahrungswissen verallgemeinertes, abstraktes wissenschaftliches Wissen kontextbezogen konkretisieren und fundieren sowie reflexive Handlungsfähigkeit in komplexen Situationen sichern.
Wissenschaftswissen bietet dagegen vor allem das Potenzial, Selbstverständlichkeiten des beruflichen Handelns zu hinterfragen und als Nicht-Selbstverständlichkeiten aufzudecken. Seine zentrale Funktion für die Berufstätigkeit ist, »die professionellen Standards, Beurteilungsschemata, Relevanzkriterien als nicht-selbstverständliche beurteilen und diskutieren zu können« (Vogel 1999, S. 39). Zudem könne nach Wittpoth (1997) wissenschaftliches Wissen Irritationen auslösen und als Ressource genutzt werden, als ein »Spiegel«, in dem man »die von sich selbst gezeichneten Bilder kontrollieren kann« (ebd., S. 63). Gerade dann, wenn »eingeschliffene Deutungsmuster ins Leere laufen«, wenn der Alltag zum Problem werde, könne Wissenschaftswissen eine aufklärende Funktion haben und Erklärungsangebote dafür liefern, warum das berufliche Handeln nicht gelinge.
Eigensinniger Umgang mit wissenschaftlichem Wissen
In der wissenschaftlichen Weiterbildung könnte es aus didaktischer Sicht demnach um die Aufgabe gehen, wissenschaftliches Wissen als Inhalte in die Lehre einzubringen und mit dem berufspraktischen Erfahrungswissen der Teilnehmenden zu vermitteln, also beide Wissensformen in ihr Recht zu setzen und sie produktiv in Verbindung zu bringen. Diese Aufgabe ist letztlich von den Lehrkräften selbst zu erbringen. Gerade in der curricular wenig strukturierten Weiterbildung besteht eine große, von den Lehrkräften auszufüllende Offenheit, bezogen auf die Inhalte und deren Thematisierung.
Um diese Aufgabe beziehungsweise insbesondere die Nutzung wissenschaftlichen Wissens durch Lehrkräfte angemessen zu konzeptualisieren, kann auf Einsichten der sozialwissenschaftlichen Verwendungsforschung zurückgegriffen werden (Beck/Bonß 1989). Diese verweist auf eigensinnige Interpretations-, Selektions- und Transformationsprozesse wissenschaftlichen Wissens durch gesellschaftliche Akteure und damit auch durch Lehrkräfte (vgl. zusammenfassend Haberzeth 2010, S. 39 ff.). Bezogen auf die Lehre heißt das: Lehrinhalte liegen in den meisten Fällen nicht bloß vor als gewissermaßen abgrenzbare Wissenspakete, die dann vor der Vermittlung gegebenenfalls nur noch didaktisch reduziert, also verkleinert oder vereinfacht werden müssen. Vielmehr müssen Themen der Lehre unter Rückgriff auf Wissen von den Lehrenden erst ausgelegt und in Lehrinhalte