1.4.2 Welche Marketinggrundeinstellung soll ein Unternehmen anstreben?
Die Marketingorientierung, die ein Unternehmen zu einem bestimmten Zeitpunkt aufweist, ist das Ergebnis eines langfristigen sozialen Entwicklungsprozesses. Sie spiegelt die Auseinandersetzung zwischen technisch-, kaufmännisch- oder marktorientierten Abteilungen und Managern wider.
Als Ergebnis eines Entwicklungsprozesses lässt sie sich auch nicht kurzfristig und ohne weiteres ändern. Die Marketinggrundeinstellung ist als Dimension der Unternehmenskultur kein Instrument; ihre Veränderung kann deshalb nur im Sinne einer Zielvorstellung angestrebt, nicht aber als Massnahme ergriffen werden. Praktische Erfahrungen zeigen, dass eine Vielzahl von Einzelmassnahmen nötig sind, um eine als Soll-Vorstellung definierte Neuorientierung in die Wege zu leiten und dass normalerweise viele Monate oder gar Jahre konsequenter Überzeugungsarbeit nötig sind, um dem angestrebten Soll spürbar näher zu kommen.19
Damit entsteht die Frage, welche Überlegungen anzustellen sind, um die Soll-Position für eine Neuorientierung festzulegen.
Die in Abbildung 1-6 bezeichneten Extrempositionen können praktisch ausgeschlossen werden. Extrem produktorientiertes Marketing birgt die Gefahr in sich, dass ein Unternehmen am Markt vorbei produziert, da es die Bedürfnisse und Probleme ihrer Käufer nicht kennt. Extrem bedürfnisorientiertes Marketing, das sich nur an den Kundenwünschen orientiert, berücksichtigt zu wenig die vom Unternehmenspotenzial (finanzielles, personelles, anlagemässiges Potenzial, Produktions- und Marketing-Know-how) und die von den Unternehmenszielen (Gewinn, ROI) gesetzten Grenzen bzw. Anforderungen. Die Folgen sind mangelnde Rentabilität und Überforderung des vorhandenen Unternehmenspotenzials.
Ähnlich verhält es sich mit extrem aktivem bzw. extrem passivem Marketing. Ein übertriebener Einsatz der Instrumente Werbung, Verkauf und Preis wird auf die Dauer zu teuer und ist aufgrund abnehmender Grenzraten der Wirkung der Marktbearbeitungsinstrumente kaum sinnvoll. Bei passivem Marketing geht dagegen der Kontakt zu den Kunden verloren; die Gefahr, von aktiveren Konkurrenten überrundet zu werden, ist entsprechend gross.
Im verbleibenden Bereich der Mischtypen hat das Unternehmen auf der Basis einer eingehenden Analyse der Symptome der existierenden Marketingorientierung (Ist-Situation) unter Berücksichtigung seiner Ziele und des vorhandenen Unternehmenspotenzials die anzustrebende Soll-Position festzulegen. Wenn es die Erkenntnisse der Marketingwissenschaft beachtet, sollte es allerdings primär Positionen im Quadranten „aktiv/ bedürfnisorientiert“ anstreben. Verschiedene fundierte empirische Untersuchungen zeigen nämlich einen klar positiven Zusammenhang zwischen dem Ausmass einer richtig verstandenen, d.h. nicht übertriebenen Kundenorientierung und dem Unternehmenserfolg.20
In der Praxis wird auch heute noch durchaus nicht selten und trotz Lippenbekenntnissen zur Bedürfnisorientierung aufgrund der Symptom-Analyse eine zu starke Produktorientierung, gepaart mit ungenügend aktivem oder gar mit passivem Marketing, festgestellt. Auf dieser Basis ergeben sich dann die in Abbildung 1-7 eingezeichneten Entwicklungsempfehlungen in Richtung Verstärkung der Bedürfnisorientierung und des Aktivitätsniveaus.
Abb. 1-7: Typische Entwicklungspfade zur Änderung der Marketinggrundeinstellung
Um eine grobe Vorstellung vom Aufwand zu vermitteln, der mit einer derartigen Neuorientierung verbunden sein kann, werden in Tabelle 1-3 Massnahmen aufgelistet, mit denen ein bekannter international tätiger Elektrokonzern versucht hat, eine vermehrt kundenorientierte und aktivere Marketinggrundhaltung zu entwickeln.
Massnahmen eines Schweizer Elektrokonzerns zur Entwicklung einer vermehrt bedürfnisorientierten und aktiveren Marketinggrundeinstellung |
Marketingschulung und Kundenkultur-Workshops für Mitarbeiter verschiedenster Funktionsbereiche zur Verbesserung des generellen Marketingwissens und zur Bewusstmachung des KundenkulturproblemsAufbau von Rapportsystemen über Kundenprobleme, Konkurrenzverhalten, Marktentwicklungen; Ausbau der Marktforschungsinfrastruktur, Erhöhung des MarktforschungsbudgetsÄnderungen von Planungsvorgaben und -prozessen zur Sicherung der Berücksichtigung von Kunden- bzw. Marktinformationen bei der Produktentwicklung und InvestitionsplanungAusarbeitung einer neuen „Visual Identity“ zur Verstärkung der MarketingkommunikationKundengerechte Gestaltung der Einrichtungen und Systeme mit Kundenkontakt (Telefonzentrale, Empfang, Beschriftungen, Wegweiser, architektonische Gestaltung gewisser kontaktwichtiger Räumlichkeiten und Bauten) als äusserliche „Zeichen“ der gewollten Änderung |
Tab. 1-3: Beispiel von Massnahmen zur Verstärkung der Bedürfnisorientierung und des Aktivitätsniveaus21
1 Vgl. z.B. Scheuch (1996), S. 42
2 Vgl. Krulis-Randa, J. (1977), S. 61
3 Manche Autoren sprechen auch von der Marketingorientierung oder der Marketingdenkhaltung, vgl. z.B. Hill/ Rieser (1993), S.10ff. oder Kuss (2001), S. 7ff.
4 In Anlehnung an Kühn/ Vifian (2003), S. 12
5 Vgl. Tomczak/ Reinecke (1999), S. 294
6 Vgl. Esch/ Billen (1994), S. 409ff.
7 Vgl. Tomczak/ Reinecke (1999), S. 296
8 Vgl. Diller (1996), S. 84
9 Vgl. Tomczak/ Dittrich (1997), S. 13
10 Vgl. z.B. Kroeber-Riel/ Weinberg (2003)
11 Vgl. Meffert (2000), S. 8
12 Vgl. auch Kotler/ Bliemel (2001), S. 30ff.
13 Vgl. z.B. Becker (1998), S. 1ff.
14 Vgl. auch Kühn (1991), S. 102
15 Vgl. Kühn/ Fasnacht (2002), S. 29
16 Vgl. auch Bleicher (1986), S. 100
17 Vgl. Kühn (1991), S. 100f.
18 Vgl. z.B. Stock (2002), S. 59ff. oder Homburg/ Stock (2002), S. 123ff.
19 Vgl. auch Kühn (1991), S. 105f.
20 Vgl. u.a. Narver/ Slater (1990), S. 20ff., Jaworski/ Kohli (1993), S. 53ff., Fritz (1995), Homburg (2000)
21 Vgl. auch Kühn (1991), S. 106
2 Marktgeschehen als System
Im ersten Abschnitt des 2. Kapitels wird gezeigt, wie mit Hilfe des Systemansatzes die Struktur eines Marktes erfasst werden kann. Anschliessend werden die wichtigsten Elemente (Abschnitt 2.2) und die zu ihrer Beschreibung relevanten Eigenschaften erläutert (Abschnitt 2.3). Im Abschnitt 2.4 folgt dann eine Darstellung der Instrumente, welche dem Unternehmen zur Beeinflussung des Marktgeschehens zur Verfügung stehen. Abschliessend (Abschnitt 2.5) wird anhand eines konkreten Beispiels die Anwendung des Systemansatzes zur Beschreibung des Marktgeschehens illustriert.
2.1 Erfassung der Marktstruktur mit Hilfe des Systemansatzes
Zur Lösung praktischer Probleme müssen im Allgemeinen Informationen und Erkenntnisse aus verschiedenartigen Wissensbereichen beigezogen werden. Dies gilt auch für Marketingprobleme. Für deren Behandlung sind neben dem Marketing und weiteren Teildisziplinen der Betriebswirtschaftslehre insbesondere folgende Wissensbereiche von Bedeutung:
Verhaltenswissenschaften, insbesondere Psychologie (z.B. Erkenntnisse zur Erklärung des Kauf- und Konsumverhaltens)
Volkswirtschaftslehre