Sherlock Holmes und die ägyptische Mumie. Tibor Zenker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tibor Zenker
Издательство: Bookwire
Серия: Die neuen Fälle des Sherlock Homes / Von Tibor Zenker
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783990015032
Скачать книгу
er in entschiedenem Ton, »die Zeit drängt etwas. Ist Herr Liebknecht in unser Problem eingeweiht?«

      »Das ist er«, bestätigte Engels. »Wir können offen sprechen.«

      »Dann will ich dies sogleich in Anspruch nehmen«, setzte Holmes fort. »Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass sich die Angelegenheit bislang als schwer begreiflich erweist. Von welcher Seite man es auch betrachtet: Das Ganze ergibt wenig Sinn.«

      »Nun, eines erscheint mir dennoch klar«, entgegnete Engels. »Ein fehlender Leichnam deutet doch auf eine gezielte Sabotage einer geplanten Beerdigung hin. Offenbar fürchten seine Gegner Marx sogar noch nach seinem Tod.«

      »Gewiss«, bestätigte Holmes, »dies ist ein naheliegender Gedanke.«

      »Und hierfür kämen allerlei Täterkreise in Betracht«, warf Liebknecht ein. »Viele hätten daran Interesse, dieses wichtige Ereignis zu be- oder verhindern. Anarchistische Querulanten zum Beispiel. Aber viel mehr noch diverse Staatskanzleien. Es würde mich nicht wundern, wenn ein kontinentaler Geheimdienst dahintersteckt – sei es die russische Ochrana oder die deutsche Geheimpolizei.«

      Holmes antwortete nicht, sondern begann damit, einmal im Kreis durch das Zimmer zu schreiten, bis er seine Gedanken geordnet hatte. »Nun gut«, verkündete er. »Wenn das Ziel also die Verhinderung des Begräbnisses war, so werden wir diesem Ansinnen einen Strich durch die Rechnung machen, die Beerdigung wie geplant durchführen und sehen, was passiert.«

      »Sie wollen einen leeren Sarg begraben?«, fragte Liebknecht erstaunt.

      Holmes lächelte. »Aber nein. Der Sarg ist keineswegs leer«, antwortete er und legte sein Exemplar des »Kapitals« auf den Schreibtisch.

      ***

      Trotz gewisser Bedenken von Engels und Liebknecht hatten wir uns entschlossen, den Plan durchzuführen – schließlich, so ehrlich muss man sein, hatten wir auch nichts Besseres. Am nächsten Morgen begab sich Holmes zum Friedhof, wo er mit der Trauergemeinschaft, die bewusst nur aus Familienangehörigen und engeren Freunden bestand, zusammentraf. Neben den beiden eingeweihten deutschen Sozialisten befanden sich unter diesen Marx’ Tochter Eleanor mit ihrem Verlobten, dem englischen Sozialisten Edward Aveling, Marx’ Schwiegersöhne Paul Lafargue und Charles Longuet, beide aus Frankreich, seine Haushälterin Helena Demuth sowie weitere Freunde, die Marx zeitlebens begleitet hatten.

      Meine Aufgabe war es in der Zwischenzeit, für den sicheren Transport des Sarges zum Friedhof zu sorgen. Als ich gemeinsam mit Herrn Seelenfried in dessen Institut hierfür die letzten Vorkehrungen traf, beschlich mich ein seltsames Gefühl: Wir hatten nie überprüft, ob sich im Sarg tatsächlich nur Bücher befanden. Und die Tatsache, dass er nicht leer war, könnte auch geradezu eine hinterlistige Aufforderung gewesen sein, die Beerdigung trotzdem durchzuführen – ganz wie wir beschlossen hatten. Vielleicht wollten die Täter genau das und wir waren in eine Falle getappt?

      Seelenfried war wenig erfreut, als ich begann, den Sarg Buch für Buch auszuräumen. Erst auf meine explizite, leicht gereizte Bitte, ging er mir zur Hand. Und tatsächlich: Als wir alle Bücher entnommen hatten, fanden wir am Boden des Sarges eine einigermaßen beunruhigende Überraschung: Nicht weniger als zehn Stangen Dynamit.

      Ich ärgerte mich über unsere vorherige Nachlässigkeit, denn der im Sarg zurückgebliebene Sprengstoff diente gewiss einem weiterführenden Plan. Ohne Initialzündung bestand jedoch keine Gefahr, wie ich Seelenfried mehrmals versichern musste. Man müsste die kurzen Zündschnüre schon per Hand, das heißt etwa mittels eines Streichholzes entzünden, um eine – entsprechend leicht verzögerte – Explosion herbeizuführen. Unter den Büchern wäre dies freilich unmöglich gewesen, weswegen sich mir der eigentliche Zweck dieser Installation vorläufig noch nicht erschloss.

      »Das ist kein sehr praktischer Tod«, meinte Seelenfried, »wenn man von Sprengstoff zerfetzt wird. Da bleibt ja nichts übrig! Was soll man da beerdigen? Ich sage Ihnen, Dr. Watson, in solchen Fällen stehen die besten Bestatter – und da darf ich mich in aller Bescheidenheit hinzuzählen – vor einer immensen Herausforderung. Einmal hatte ich nur einen linken Fuß zur Verfügung…«

      Seelenfrieds angebrochene Anekdote ist das Letzte, woran ich mich erinnern kann. Im nächsten Moment spürte ich einen heftigen Schlag am Hinterkopf, sank zu Boden und verlor das Bewusstsein.

      ***

      Als ich wieder zu mir kam, war es völlig dunkel. Sofort bemerkte ich, dass ich geknebelt und an Armen und Beinen gefesselt war. Mein Kopf schmerzte erheblich. Ich versuchte, mich aufzurichten, doch stieß ich mit der Stirn sofort auf eine Begrenzung. Nach links und nach rechts rollend musste ich feststellen, dass auf beiden Seiten ebenfalls unmittelbar Wände folgten. Und da wurde mir klar: Ich befand mich in einem Sarg.

      Da ich nichts weiter sehen konnte, bemühte ich mich, meine anderen Sinne zu schärfen. Obwohl der Sarg mit Stoff ausgekleidet war, verspürte ich am Rücken eine unangenehme Unebenheit – es waren die Dynamitstangen. Ich befand mich also im Sarg von Karl Marx. Und er bewegte sich.

      Langsam kam meine Erinnerung zurück. Der Ablauf der Ereignisse seit meinem Niederschlag musste sich wohl folgendermaßen gestaltet haben: Die Täter, die in Seelenfrieds Institut zurückgekehrt waren, hatten uns außer Gefecht gesetzt und mich in den Sarg gelegt. Was mag mit dem armen Herrn Seelenfried geschehen sein? Den verschlossenen Sarg hatten sie, verkleidet als Transporteure oder Institutsmitarbeiter, am Haupteingang des Friedhofs wie vereinbart übergeben. Für meine scheinbare Abwesenheit hatten sie vermutlich eine kleine Ausrede parat. Daraufhin musste sich der Trauerzug in Bewegung gesetzt haben, wobei der Sarg gewiss auf einem Handwagen lag.

      Dann aber wurde mir die gesamte Tragweite des Plans bewusst: Es handelte sich um ein Sprengstoffattentat auf den Trauerzug! Mit einem Schlag hätte man die nunmehr höchste Autorität der internationalen sozialistischen Bewegung, Herrn Engels, sowie die führenden Köpfe der deutschen und internationalen Sozialdemokratie beseitigt. Wie aber konnte der Sprengstoff unter mir zur Detonation gebracht werden? Nur durch eine zweite, kleinere Explosion, die sodann für die Dynamitstangen als unmittelbare Initialzündung dienen würde. Das Ergebnis wäre ein Inferno, das kaum einer der Trauergäste, darunter auch Holmes, wie mir nun bewusst wurde, überleben würde. Ich war dabei lediglich ein Kollateralschaden.

      Doch wo würde diese Explosion erfolgen? Mein Gehirn arbeitete intensiv. Es musste ein Ort sein, an dem der Trauerzug eng zusammenrückt, an dem aber auch die Möglichkeit einer unbeobachteten Zündung bestand. Dafür gab es auf dem Friedhof nur eine geeignete Stelle: Auf dem Weg vom Haupttor zur Grabstelle auf der Ostseite musste der Zug durch den Tunnel unter der Swain’s Lane. An seinem Ende würde die auslösende Detonation erfolgen, woraufhin auch das Dynamit im Sarg explodieren würde. Die dahinter gehende Gruppe hätte keine Chance. Immerhin – ich würde wenigstens nicht lebendig begraben werden.

      Der Wagen mit meinem Sarg rollte unaufhaltsam weiter über den holprigen Friedhofsweg. Als ich bemerkte, dass sich bei mir langsam defätistische Gleichgültigkeit breitmachte, wurde mir klar, dass der Sauerstoff zur Neige ging. Offenbar waren Seelenfrieds hochwertige Särge sogar luftdicht.

      Ich mobilisierte nochmals alle verfügbaren Kräfte und stieß mit den Schuhspitzen meiner zusammengebundenen Füße gegen den Sargdeckel. Einmal, zweimal, dreimal. Ich warf mich verzweifelt hin und her, um gegen die Seitenwände zu prallen. Ich klopfte mit den Kniescheiben gegen die Abdeckung, schließlich sogar mit meiner Stirn.

      Und endlich blieb der Wagen stehen. Stimmen waren zu vernehmen, dann wurde von außen an den Sargdeckel geklopft. Ich antwortete mit letzter Kraft und einem heftigen Stoß mit meinen Füßen. Die Stimmen wurden lauter und aufgeregter, dann wurde am Sarg geschraubt. Schließlich, nach einer weiteren halben Minute, die sich wie eine Ewigkeit anfühlte, öffnete endlich jemand den Deckel – ich war niemals zuvor so froh gewesen, das Gesicht von Holmes zu sehen.

      Er nahm mir sofort den Knebel ab, woraufhin ich wieder durchatmen konnte. Mit Holmes Hilfe richtete ich den Oberkörper auf, drehte mich um und sah, dass wir keine 20 Yards mehr vom Tunnel entfernt waren. Es war höchste Zeit gewesen.

      »Holmes«, keuchte ich, »am hinteren Ende des Tunnels verbergen sich Attentäter, mindestens