»Gewiss, das versteht sich von selbst«, bestätigte Holmes.
Engels hob nun sogar mahnend seinen rechten Zeigefinger: »Da ist noch mehr! Auch die Töchter von Marx, Laura und Eleanor, wissen nichts vom Verschwinden des Leichnams – und so soll es auch bleiben. Die beiden haben binnen kürzester Zeit nicht nur ihren Vater, sondern davor auch schon ihre Mutter und ihre älteste Schwester verloren. Sie sind am Ende ihrer Kräfte. Selbiges gilt für Marxens Haushälterin, Fräulein Helena Demuth.«
»Ich verstehe«, antwortete Holmes. »Da der Leichnam nicht zu Hause verschwunden ist, benötigen wir ohnedies keine Zeugenaussagen. Und als Täterinnen scheiden die drei Damen wohl aus.«
Die letzte, analytisch zweifellos korrekte, aber doch ein wenig unpassende Bemerkung rasch übergehend, brachte ich die Sprache auf den Ausgangspunkt der Ermittlungen: »Wir werden zunächst das Bestattungsinstitut unter die Lupe nehmen, nicht wahr?«
Engels nickte mir zu, nahm eine Visitenkarte vom Schreibtisch und überreichte sie mir: »Bestattung Seelenfried« stand darauf – und eine Adresse in unmittelbarer Nähe des Highgate Friedhofs.
***
Auf der Fahrt nach Camden, wo sich der geradezu monumentale Friedhof auf dem Highgate Hill befand, schwieg Holmes zunächst eine Weile, bis er sich einige Gedanken zurechtgelegt hatte.
Als er endlich aufblickte, fragte ich ihn ungeduldig: »Nun, Holmes, was halten Sie von der Angelegenheit?«
»Offenkundig handelt es sich nicht um eine gewöhnliche Entführung«, antwortete er. »Eine solche zielt üblicherweise auf die Erpressung eines Lösegeldes ab, weswegen das Opfer hierfür tunlichst lebendig zu sein hat. Ich denke nicht, dass wir es mit einem Erpressungsversuch zu tun haben. Ein entsprechendes Schreiben hätte Herrn Engels ja auch bereits vorliegen müssen…«
Ich wartete einige Sekunden darauf, dass Holmes weitere und vor allem zweckmäßigere Überlegungen mit mir teilen würde, doch dies geschah nicht. Unwillkürlich klatschte ich in die Hände und rief: »Und das ist alles? Holmes, wenn Sie mich zum Narren halten wollen…«
»Keineswegs, mein guter Watson«, unterbrach mich Holmes sofort. »Wir wollen lediglich das Unmögliche ausschließen, so offensichtlich es auch sei.«
Ich war noch nicht besänftigt. »Ja, wenn das so ist«, begann ich, »dann können wir wohl noch weitere Szenarien verbannen. Herr Marx wird wohl auch nicht als proletarischer Messias am dritten Tage auferstanden sein, um in den Himmel, an den er nicht glaubt, aufzusteigen. Ebenso wenig wird er als reanimierter jamaikanischer Voodoo-Zombie durch die Straßen Londons trotten.«
Doch Holmes ließ sich nicht provozieren. »Das wollen wir hoffen – um seiner selbst und seiner hinterbliebenen Töchter Willen«, antwortete er trocken. »Und dennoch hat es jemand für zweckmäßig erachtet, den Körper zu stehlen. Wir können jedenfalls festhalten, dass wir mehrere Täter suchen – ein Mensch alleine hätte die Tat nur unter erheblichen Schwierigkeiten durchführen können, was im Zuge eines nächtlichen Diebstahls, der rasch, unbemerkt und gut organisiert vonstattengehen muss, wenig hilfreich gewesen wäre.«
Zweifellos ein Punkt für Holmes. Damit lagen in der Tat erste Einschätzungen zu den Umständen des Diebstahls vor. Auch konnten wir davon ausgehen, dass die Tätergruppe planmäßig vorging, womit wiederum feststand, dass wir es tendenziell mit Profis zu tun haben würden – und nicht mit einem unüberlegten, impulsiven Akt, der vielleicht nur auf einem makabren Scherz oder dergleichen beruhte.
Unsere Kutsche erreichte schließlich das Bestattungsinstitut Seelenfried, das sich am südlichen Ende der Swain’s Lane befand, die, teilweise steil bergauf führend, den Friedhof in weiterer Folge in eine ältere West- und jüngere Osthälfte teilt, die lediglich durch einen Tunnel verbunden sind.
***
Das Institut war von überschaubarer Größe. Trotz der zahlreichen Beerdigungen, die täglich am benachbarten Friedhof stattfanden, dürfte das Geschäft eher im bescheidenen Ausmaß erfolgreich sein. Daher empfing uns der Inhaber auch persönlich – weitere Angestellte gab es nicht.
Er stellte sich als Jakob Seelenfried vor, ein schon etwas älterer, aus Prag stammender Jude, der hier in London vornehmlich Immigranten, diese jedoch jeder erdenklichen Religion zugehörig, zu seinen »Kunden« zählte.
»Es ist eine Katastrophe!«, stöhnte er, faltete die Hände und blickte gen Himmel respektive Zimmerdecke. »Da hat man einmal im Leben ein Glück mit einer berühmten Leiche, ich meine: mit einer Kundschaft. Man richtet’s schön her, dass sie fesch ist fürs Begräbnis, bettet sie in einen Sarg mit samtener Innenverkleidung, und dann verschwind’s einfach, dir nix – mir nix. Ein so ein Jammer!«
Um Herrn Seelenfrieds innere Ruhe war es offenkundig geschehen. Den Verlust – im wortwörtlichen Sinn – einer Kundschaft, zumal einer sehr wertvollen, schien er nur schwer verwinden zu können.
»Herr Seelenfried«, begann Holmes, »leider müssen wir Ihnen einige Fragen zum bedauerlichen Verlust der Kundschaft Karl Marx stellen.«
»Ja, wenn’s denn sein muss«, antwortete er schicksalsergeben. »Es hilft ja doch nichts.«
»Ist Ihnen denn früher schon mal ein Leichnam abhanden gekommen?«, fragte Holmes.
Der Bestatter reagierte ein wenig empört. »Wo denken Sie hin? In 37 Jahren nicht! Jedermann weiß: Bei Seelenfried können Sie sich beruhigt zur Ruhe betten. Zur ewigen Ruhe. Amen.«
Holmes nickte verständnisvoll und sah sich ein wenig in den Geschäftsräumlichkeiten um. Offensichtlich gab es keine besonderen Sicherheitsvorkehrungen gegen Einbruch. Die Täter hatten nur das Glasfenster beim Eingang einschlagen müssen, hindurchgreifen und die Tür von innen öffnen. Innerhalb der Lokalität gab es keine weiteren Türen.
»Wie ich sehe«, bemerkte Holmes daher, »schützen Sie Ihr Geschäft nicht besonders gegen unbefugtes Eindringen. Nur ein simples Riegelschloss befindet sich an der Tür.«
Seelenfrieds Miene blieb verdunkelt. »Ja, selbstverständlich nicht!«, entgegnete er. »Wer rechnet denn mit so etwas? Was für minderbemittelte Dummköpfe brechen denn in ein Bestattungsunternehmen ein und stehlen einen wehrlosen Leichnam? Das ist doch idiotisch!«
Ich konnte mir das Schmunzeln nicht versagen. »Eigentlich«, warf ich ein, »gehen wir nicht unbedingt davon aus, dass es sich um das Werk von Idioten handelt. Vielmehr dürfte es sich um ein professionelles Team mit wohlüberlegter Vorgehensweise handeln.«
Seelenfried sah mich verständnislos an und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Professionell worin?«, fragte er. »In akkurater Verblödung vielleicht! Es ist ein menschlicher Kadaver – freilich meinerseits sehr hübsch drapiert –, aber doch nur ein Kadaver, den sie erbeutet haben. Und ich bin ruiniert! Stellen Sie sich nur vor, das spricht sich herum! Leichenschwund bei Seelenfried – das ist keine geschäftsförderliche Werbung. Eine Katastrophe ist das!«
Mir schien, auch Holmes hätte sich nun ein kurzes Lächeln nicht verkneifen können. Doch gleich darauf bemühte er sich, den armen Mann zu beruhigen.
»Keine Sorge«, sagte er in sachlichem Ton. »Ihr Auftraggeber, Herr Engels, hat kein Interesse daran, dass die Sache an die Öffentlichkeit gelangt. Deshalb wurde auch nicht die Polizei verständigt, sondern Dr. Watson und ich mit der Ermittlung betraut. Und die Presse wird natürlich auch nichts erfahren. Aber Sie müssen uns helfen.«
Seelenfried seufzte laut. »Wie soll ich Ihnen denn helfen?«, fragte er. »Die Tür wurde gewaltsam geöffnet, die Kundschaft ist weg. Das war’s. Punkt.«
Holmes überlegte einige Sekunden, dann bat er den Bestatter: »Würden Sie uns vielleicht den leeren