Sherlock Holmes und die ägyptische Mumie. Tibor Zenker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tibor Zenker
Издательство: Bookwire
Серия: Die neuen Fälle des Sherlock Homes / Von Tibor Zenker
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783990015032
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Tischen Särge standen. Mit einer Winkbewegung bedeutete er uns, dass wir ihm folgen mögen, doch dann hielt er inne.

      »Wieso leer?«, fragte er plötzlich. »Hat Ihnen Herr Engels das nicht gesagt? Der Sarg ist keineswegs leer zurückgeblieben.«

      Holmes legte seine Denkerstirn in Falten: »Wie meinen Sie das?«

      Seelenfried schüttelte den Kopf und meinte nur: »Kommen Sie, sehen Sie selbst!« Er ging zu einem der Särge – offenbar derjenige von Marx –, öffnete den Deckel und sah uns missmutig an: »Wie ich schon sagte: Das waren Idioten!«

      Wir traten näher an den Sarg heran. Was wir sahen, war doch einigermaßen verblüffend: Der Sarg war bis beinahe oben hin gefüllt – mit Büchern.

      Holmes nahm eines der Bücher in die Hand und las vom Einband: »Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Von Karl Marx.« Er öffnete den Band, blätterte eine Seite vor und setzte fort: »2. Auflage, Hamburg 1872.«

      Auch ich nahm nun ein Buch zur Hand – und es war dieselbe deutschsprachige Ausgabe des Hauptwerks von Marx. Insgesamt befanden sich in dem Sarg gewiss an die 50 identische Exemplare.

      Seelenfried hob verzweifelt die Arme: »Was soll denn das?«, jammerte er. »Können Sie mir sagen, was das soll?«

      Holmes schüttelte langsam den Kopf. »Tut mir leid, das kann ich nicht«, antwortete er.

      »Vielleicht ist das nur ein Scherz?«, vermutete ich, war jedoch selbst nicht so recht davon überzeugt.

      Folgerichtig entgegnete Holmes: »Wohl kaum. Für einen Scherz erscheint mir dies doch ein wenig zu aufwendig.« Dann wandte er sich an Seelenfried: »Das wäre alles. Sie gestatten es gewiss, wenn ich mir ein Exemplar mitnehme, nicht wahr?«

      »Nur eines?«, fragte der Bestatter empört. »Nehmen Sie alle! Was soll ich damit?«

      Holmes lächelte. »Danke, aber ein Buch wird mir genügen. Ich ersuche Sie, die restlichen einstweilen im Sarg zu lassen.«

      »Darauf können Sie Gift nehmen!«, rief Seelenfried. »Es fiele mir im Traum nicht ein, diesen Unfug aufzuräumen. Und der Sarg ist ohnedies schon bezahlt.«

      Während Holmes sich mit einem einfachen Kopfnicken bereits verabschiedete und Richtung Ausgang marschierte, legte ich mein Exemplar des »Kapitals« zurück in den Sarg und verschloss ihn gemeinsam mit Herrn Seelenfried. Dabei wurde dieser schlagartig geschäftstüchtig.

      »Dr. Watson«, begann er, »es ist die Tätigkeit des Detektivs gewiss ein überaus gefährlicher Beruf. Sie haben mit allerlei ruchlosen und brutalen Kriminellen zu tun. Haben Sie schon daran gedacht, Vorkehrungen zu treffen, sollten Sie – Gott behüte – in Ausübung ihres Dienstes ums Leben kommen? Ich kann Ihnen ein gutes Angebot machen: Volles Programm, Waschen, Rasieren, Kämmen, Einbalsamierung, Bekleidung, Sarg, Begräbnis mit Blumen und Kränzen. Zum besten Preis in ganz Nordlondon!«

      Mochte Seelenfried auch nicht gänzlich Unrecht haben, so sträubte sich in mir doch alles dagegen, mein vorzeitiges Ableben zu organisieren.

      »Danke für das Angebot«, antwortete ich höflich, »doch ich habe aktuell nicht vor, aus dem Leben zu scheiden. Vielleicht ein andermal. Guten Tag!«

      Ich machte mich auf den Weg, um Holmes zu folgen. Als ich fast bei der Tür war, rief mir der Bestatter noch nach: »Denken Sie darüber nach! Wenn Sie tot sind, ist es zu spät!«

      ***

      Die lange Rückfahrt in die Regent’s Park Road zu Herrn Engels verlief einsilbig. Holmes blätterte geistesabwesend und mitunter etwas hektisch in den über 600 Seiten des »Kapitals«. Hin und wieder sprach er ein deutsches Wort laut aus, das sich wohl im Text befand, mehrmals musste er heftig nicken, seltener den Kopf schütteln, zweimal lachen. Dann schlug er unvermittelt das Buch zu, blickte auf und verkündete: »Verstehe.«

      Ich versuchte gar nicht, meine Verwunderung zu verbergen. »Was verstehen Sie, Holmes?«, fragte ich pflichtbewusst.

      »Die Relevanz, mein lieber Watson«, erklärte er. »Es handelt sich um eine äußerst scharfsinnige Analyse. Wenn das stimmt, was da drinnen steht, dann verfügt unser gegenwärtiges Wirtschafts- und Gesellschaftssystem in der Tat über keinerlei weitere Legitimation. Kein Wunder, wenn die Gegner von Marx dieses Buch gleich mit seinem Verfasser begraben wollen.«

      Ich wusste nicht so recht, was ich davon halten sollte, zumal sich gleich mehrere Fragen aufdrängten, wobei ich zunächst nur eine stellen wollte: »Holmes! Sie haben doch nicht jetzt während der Fahrt das ganze Buch gelesen?«

      »Weitgehend«, antwortete Holmes. »Sie sind offenbar nicht mit der Technik des Diagonallesens vertraut. Ich habe mir einen Überblick verschafft über die ökonomischen Vorstellungen von Herrn Marx. Und eines dürfte feststehen: Dieser Kapitalismus, von dem er schreibt, stellt wohl den intelligentesten und bestorganisierten Raubzug der Menschheitsgeschichte dar – und das im Rahmen der Gesetze. Äußerst bemerkenswert!«

      Kurz musste ich lachen. »Um Himmels Willen, Holmes«, rief ich, »sind Sie jetzt etwa Sozialist?«

      Ich erntete nur ein nüchternes Kopfschütteln. »Über den Sozialismus steht da nichts drinnen«, erklärte Holmes und legte das Buch beiseite. »Und überhaupt: Wenn dieses allzu komplexe, überlange und für den gemeinen Leser schwer nachvollziehbare Traktat das zentrale Propagandamittel der Herren Marx und Engels ist, dann sehe ich schwarz für diese so genannte proletarische Revolution. Kein Arbeiter wird das jemals verstehen.«

      »Da kann ich Sie beruhigen«, versicherte ich Holmes. »Sozialistische Literatur, auch in trivialer, allgemeinverständlicher Form, gibt es heute wie Sand am Meer. Herr Engels ist sicherlich bereit, Ihnen ein etwas griffigeres Pamphlet zu überlassen.«

      Holmes schüttelte den Kopf. »Ich persönlich habe dafür keinen Bedarf, denn ich habe Herrn Marx schon verstanden. Seine Betrachtungen sind wissenschaftlich korrekt. Ich frage mich nur, ob der große Philosoph auch bedacht hat, dass es eine Sache ist, die Welt zu analysieren, aber eine wesentlich andere – und darauf kommt es an –, sie zu verändern.«

      Bevor ich Holmes diesbezüglich abermals an Engels verweisen konnte, hielt unsere Kutsche am Bestimmungsort.

      ***

      Wieder im Büro des deutschen Industriellen und Kommunisten angelangt, stellte uns Engels einen Gast vor, der in der Zwischenzeit eingetroffen war: Ein Mann ähnlichen Alters, mit ähnlichem Bart und Blick.

      »Mr. Holmes, Dr. Watson«, sagte Engels, »darf ich Ihnen meinen langjährigen Freund vorstellen, Herrn Wilhelm Liebknecht, seines Zeichens Abgeordneter zum deutschen Reichstag für die Sozialistische Arbeiterpartei.«

      Liebknecht erhob sich von seinem Stuhl und schüttelte uns die Hände. Auch sein Englisch war gut verständlich, da er, wie wir später erfuhren, einige Jahre in London im Exil verbracht hatte, wo er auch Marx und Engels vor über 30 Jahren kennen gelernt hatte.

      »Herr Liebknecht«, erklärte Engels, »ist, so schnell es ging, aus Leipzig angereist. Er soll morgen beim Begräbnis eine Rede in Repräsentanz der deutschen Arbeiterklasse halten.«

      »Ist es nicht so«, fragte ich, an Liebknecht gewandt, »dass im Deutschen Reich antisozialistische Ausnahmegesetze herrschen? Können Sie sich überhaupt in der Legalität bewegen?«

      »Ganz recht«, antwortete Liebknecht, »Bismarcks .Sozialistengesetze’ unterbinden jede offizielle organisierte politische Tätigkeit. Doch mein Mandat als Abgeordneter beruht auf der Persönlichkeitswahl. Solange ich nicht im Namen der Partei auftrete, ist es formell legal.«

      »Sie müssen wissen«, ergänzte Engels, »Herr Liebknecht und sein Genosse August Bebel sind trotz der staatlichen Repression äußerst erfolgreich in Deutschland. Ein Vorbild für die sozialistische Bewegung auf der ganzen Welt.«

      »Trotzdem«, setzte Liebknecht wiederum fort, »Verhaftungen, Ausweisungen, Razzien und Gefängnisaufenthalte gehören zu meinem täglich Brot. Wir werden ständig überwacht. Vermutlich hat mir Bismarck auch hierher ein paar Aufpasser von der Geheimpolizei hinterhergeschickt.