Die exklusive Intimität Liebender erweitert ihr Selbstverständnis. Zwei machen als Paar Erfahrungen, die sie ohne den anderen nicht machen könnten. Erst nach mehrmaliger Wiederholung intimer Handlungen zeigt sich, ob das beide auch freier macht füreinander oder ob sie beschämter, vielleicht sogar schuldig ans Tageslicht zurückkehren. Manchmal erschrecken frisch Verliebte so vor sich selbst und dem anderen, dass sie sich entschließen, lieber wieder auf die erotische Nähe zu verzichten. Manches fängt auch aufregend an und flaut rasend schnell wieder ab. Irgendetwas hat nicht gehalten, was es versprochen hat. Das Wohlbefinden in der gemeinsamen Sexualität ist schwer zu kontrollieren. Erfüllung findet sich nicht automatisch und mit jedem Menschen. In der therapeutischen Praxis häufen sich in den letzten Jahren wieder die Klagen über unerwartete Plagen, Befremdungen und Enttäuschungen im Bett.
Liebesmythen befeuern überall auf der Welt hohe Erwartungen. Und es stimmt, eine gelingende Leidenschaft beflügelt die Liebenden. Die Liebe ist das Zaubermittel eines Wachtraums. Die vorher gebremste Seele löst sich durch die gemeinsame Enthemmung aus den alltäglichen Fesseln, und das so entrückte Paar fliegt schier durch sündenfreie Sphären, weil es niemandem schadet, was es miteinander unternimmt. Aber es kann jederzeit aufwachen und abstürzen. Dieses Abenteuer gibt es nicht umsonst. Auch körpereigene Drogen sind nicht ohne Nebenwirkung. Die Unverbesserlichen und Sünder unter uns können ein Lied davon singen. Aber es lohnt das Risiko, weil es das Selbst erweitert. Wer einmal geliebt hat, ist ein anderer geworden.
Neee, so versaut wie mit ihr am Anfang, das traue ich mich gar nicht zu schildern! Ich habe mich selbst nicht mehr wiedererkannt in dieser Zeit. Sie hat mich zu Dingen verführt, das gibt’s gar nicht. Und das Komische ist, im Rückblick betrachtet, das kommt mir völlig naiv vor, wie wir uns da verhalten haben. Einfach, als gäbe es gar nichts Verbotenes, wenn man in so einem Zustand ist. Also, wenn ich mich jetzt daran erinnere, werde ich bei manchem noch immer rot und gleichzeitig habe ich so ein Gefühl, so muss man sich das Paradies vorstellen, alles ist einfach, wie es ist, nichts weiter.
Das Ungehörige und das Verbotene
Die philosophische Ächtung dessen, was wir Sünde nennen, verbannt ›ungehörige‹ Motive und Handlungen in den verbotenen Bereich der niederen Lüste. Eine begangene Tat, die nicht sein durfte, soll in Qualen für den Sünder enden. Mit der Sündenkategorie engen Gesellschaften ihren Bewegungsraum auf ein sozial verträgliches Maß ein. Damit eine Abschirmung vor frevelhaften Absichten Einzelner auch einigermaßen gelingt, wurde die Menschheit unter die Aufsicht von Geistern und Göttern gestellt. Gott sieht alles! In Zeiten, da die Bevölkerung in Scharen vom Glauben abfällt, reichen religiöse Moralinstanzen nicht mehr aus. Heute werden wir in den Städten flächendeckend von Überwachungskameras der Polizei behütet.
An die Unterscheidung, was sein darf und was nicht, haben sich alle zu halten. Die Sünde ist, indem sie einen Raum markiert, der nicht betreten werden darf, ein konservatives, ein Werte erhaltendes Element. Es dient der Bewahrung (von was auch immer). Und es ist dann ein verlässliches Machtmittel, wenn es gelingt, eine Gemeinschaft bleibend auf einen Kanon des Gebührlichen einzuschwören. Der Einzelne ist dann nicht frei, auszuprobieren, was zwischenmenschlich möglich wäre, weil es als ausgeschlossen und unerlaubt gekennzeichnet ist.
Ein leidenschaftlicher Mensch, von dem behauptet wird, er fürchte weder Tod noch Teufel, ist ein Argonaut der Sinnlichkeit, ein selbstbewusster Entdecker, den kaum etwas abschrecken kann. Für dessen Liebesabenteuer haben wir Bewunderung übrig. Dorothy Parker5 wird nachgesagt, sie hätte in jeden Fettnapf getreten, der ihr im Wege stand. Von ihr stammt auch eines der schönsten Bonmots zu diesem Thema. Dorothy Parker war pausenlos auf Partys unterwegs. Einmal wurde sie von einer Gastgeberin gefragt, ob sie sich auch gut amüsiere, und sie soll geantwortet haben: »Prächtig, prächtig, meine Liebe. Noch ein Martini und ich lieg’ unterm Gastgeber.« (Karl 2011)
Kleine Sünden sind wir bereit zu vergeben, wenn sie uns charmant verkündet werden und natürlich solange wir zu den unbetroffenen Zaungästen gehören. Dass wir leidenschaftliche Fehltritte überhaupt klein reden dürfen, offenbart unseren modernen Charakter. In traditionalen Gesellschaften steht auf den erotischen Missgriff nichts weniger als die soziale Ächtung, manchmal gar der Tod. Nicht nur, dass es sich nicht gehört; dort ist es unbedingt verboten und zieht bei Nichtbefolgung strenge Strafen nach sich. In Ländern, in denen die Scharia gilt, werden insbesondere Frauen, die sich selbstständig auf erotische Abenteuer einlassen, drakonisch und öffentlich bestraft. Auch in den westlichen Gesellschaften sind private Bestrafungsaktionen in Migrationsfamilien mit entsprechendem Ehrenkodex nicht unbekannt.
Um den Katalog der Scham- und Schuldbegriffe weiter zu differenzieren: Ein Missgriff ist noch kein Missbrauch. Man kann sich moralisch vertun, so wie man sich in der Zimmertür irren kann. Natürlich gilt auch dann die Regel: Alles zu seiner Zeit und mit der richtigen Person. Aber Missgriffe passieren, und es gehört zur Kunst der Leidenschaft, ungebührliches Verhalten einer kritischen Nachbetrachtung zu unterziehen, sich eventuell selbst zum reuigen Sünder zu erklären und zu beschwören, dass es sich nicht wiederholen wird. Dann ist normalerweise bald wieder alles im Lot. Die kleinen Sünden dürfen nur nicht überhand nehmen.
Missbrauch geht im Schweregrad des Vergehens weit darüber hinaus. Es setzt eine egozentrische Aggression voraus, die dem Ausgesuchten aufgezwungen wird. Das Objekt der Leidenschaft hat nicht gewählt und wird zu einer Handlung gezwungen. Sexueller Missbrauch von Kindern geht noch einen Schritt weiter. Kinder, und bis zu einem gewissen Alter auch Jugendliche, werden vom Gesetz umfangreich vor sich selbst geschützt. Unabhängig, ob das benutzte Kind neugierig und der handelnden Person zugewandt war, ist es Erwachsenen untersagt, Kinder zu eindeutig sexuellen Handlungen zu animieren.
Mit dem Missbrauchsbegriff schützt die Gesellschaft ein höherwertiges Gut als die körperliche Unversehrtheit, nämlich das seelische Wohl ihrer Schutzbefohlenen. Ein Kind wird in dieser Frage als noch nicht reif genug eingestuft, selbst zu entscheiden. Kinder werden vorab entschieden. Erwachsene Opfer eines Missbrauchs müssen hinterher persönlich erklären und oft auch beweisen, dass die Handlung gegen ihren Willen geschehen ist.
Die sexuelle Praxis ist zwar das Kardinalthema der leidenschaftlichen Liebe. Auf dem Prüfstand der Moral steht sie aber glanzlos in der ersten Reihe. Im Kanon der sozialen Werte kann sie sich nicht als zweifelsfreie Kategorie behaupten, wie die Moralphilosophie Schopenhauers beweist. Schopenhauer ging davon aus, dass ein moralischer Wert immer relativ ist. Ein Wert steht in Bezug zu einer zweiten Größe oder ist wertlos. (Schopenhauer 1997)
Sexuelle Handlungen, welche die herrschende Moral negieren, können zwar nicht automatisch zu einem Werteverfall in der Gesellschaft führen, solange es individuelle Ausrutscher bleiben oder die Angelegenheit unter besonderen Bedingungen und zu besonde ren Zeiten zugelassen wird. Wenn Massen sich aber nicht darin stören lassen, etwas zu tun, das bisher verboten oder wenigstens so nicht vorgesehen war, verändert sich der gesellschaftliche Spielraum. Während meiner Jugend war es verpönt, auf der Straße Alkohol zu trinken. Das war Proletengehabe. Heute gehört es quasi zum guten Ton, wenn junge Erwachsene abends mit einer baumelnden Bierflasche am Finger durchs Viertel ziehen. Es lohnt sich nicht sonderlich, strenge Worte über die wechselnden Moden der Kommunikation zu verlieren. Man darf sich wundern, aber gängig ist immer das Gebaren und die Kleiderordnung, die sich öffentlich durchsetzt.
Das Verborgene
Spannend ist übrigens die Frage, ob die Intimität von Paaren, überhaupt den Erwartungen und Vorgaben der Gesellschaft entspricht? Das Intime ist ja per Definition verborgen. Nur die Vermutungen darüber sind öffentlich. Das heißt, die Moral endet in jeder Gesellschaft am Eingang zum Intimen. Moral ist für die Öffentlichkeit gemacht. Erst wenn es im intimen Bereich zu Problemen und Krisen kommt, die einen der Beteiligten dazu veranlassen, die Vertraulichkeit des Paares aufzukündigen, erfährt man mehr. Prahlereien sagen hingegen wenig darüber aus, was wirklich stattfindet. Es empfiehlt sich deswegen, bei der Beurteilung einer Sexualkultur, der man nicht selbst angehört und der Einschätzung der sexuellen Praxis eines Paares eine gewisse Vorsicht walten zu lassen. Das, was gesprochen wird, deckt sich nicht unbedingt