Liebevolle Intimität schützt vor der Zurschaustellung des Faktischen und wahrt unangenehme Geheimnisse. Diese der öffentlichen Moral abgewandte Seite einer Liebesbeziehung ist ein explizit privates Terrain und sie liegt außerhalb gesellschaftlicher Bewertungsgremien, sofern sich beide über ihre Praxis einig sind. Im Verborgenen können zwei mehr als üblich ausleben, aber auch weniger. Sofern sie es unter sich ausmachen und die Nachbarn keinen Einblick in den fremden ›Saustall‹ haben. Die Ergebnisse sieht im Normalfall keiner (Schwangerschaften ausgeschlossen).
Die New Yorker Schriftstellerin Lily Brett beschreibt in ihren Romanen das diffizile Spannungsfeld zwischen sexueller Ausstrahlung und Zurücknahme, zwischen Zeigen und Verhüllen, selbst gewollter Öffnung und schamloser Ignoranz des Intimen.6 In Lola Bensky geht sie noch einen Schritt weiter und konfrontiert das radikale Naive, die sexuell aufgeladene Atmosphäre der Hippie-Ära mit den sadistischen Experimenten und Exzessen der Konzentrationslager, dem industriellen Vernichtungskalkül der Nazis. Die Hauptfigur des Romans, Lola Bensky, ist eine junge jüdische Reporterin, welche die angehenden Stars der damaligen Musikszene interviewt. Diesen erzählt sie während der Gespräche in Andeutungen vom familiären Drama ihrer Mutter, die sämtliche Angehörige in Auschwitz verloren hat. Der Leser gerät auf eine Achterbahn der Gefühle, bis kaum noch etwas Unschuldiges übrig bleibt und auch die sinnlichen Selbstversuche der Beatgeneration nicht mehr nur als ein risiko behafteter Ausdruck ungebremster Neugierde erscheinen, sondern auch als Flucht vor der aufgebürdeten Last der Elterngeneration. Am Schluss des Romans zählt sie ihre an Drogen verstorbenen Interviewpartner auf. Man kennt alle Namen.
Jedes Paar braucht den Schutz uneinsehbarer Freiräume. Es ist für eine liebevolle und würdevolle Entwicklung gezwungen, sich von außen ungestört hingeben oder verweigern zu dürfen. Die Empfänglichkeit für die Wirklichkeit des anderen kommt schließlich durch Hinhören, Hinsehen und Ausprobieren. Hier entscheidet sich aber auch, ob man zusammen passt und die Summe der Erfahrungen überwiegend als positiv bewertet. Wo kein intimes Wohlbefinden und keine exklusive Magie entstehen, passt es nach den Maßstäben der leidenschaftlichen Liebe nicht lange. Oder es ist was ganz anderes, was zwei verbindet.
Das Unpassende und Fehlende im Intimleben eines Paares, der Zwiespalt zwischen Sehnsucht und Realität, Versprechung und Einlösung ist eine wesentliche Quelle von Krisen. Krisen entstehen, weil etwas zu viel ist oder zu wenig, etwas nicht passt, fehlt oder sich überholt hat. Die Krise ist immer ein Hinweis, dass Teile des bisherigen Arrangements oder das Ganze an seine Grenzen gestoßen sind. Allgemein betrachtet sind Krisen Zeiträume zwischen dem
Ende des Alten und dem Finden des Neuen. Hier kann also eine Beziehung enden. Im ungezügelten Chaos kann sich eine Beziehung aber auch wiederfinden und hierüber kann sie sich weiter entwickeln. Wer Krisen gemeinsam meistert, wächst. So einfach und zugleich schwer ist das.
»Irgendwann war es nicht mehr alles, so alleine ohne Kinder. Es war, als hätten wir uns genügend ausgelebt und als stünden wir jetzt vor der nächsten Etappe. Wenigstens habe ich das so empfunden. Meine Frau hat die Panik gekriegt, als ich ihr gesagt habe, dass es jetzt an der Zeit ist, Kinder zu kriegen. Das war unglaublich, wie sie darauf reagiert hat. Ich durfte es nicht in den Mund nehmen, es war tabu, sofort hat sie angefangen zu schreien. Und dann ging das mit ihren Affären los. Sie hat mit mehreren Männern was angefangen und war auch sonst viel weniger zu Hause. Angeblich war gerade zu diesem Zeitpunkt ihr volles Engagement im Job verlangt. Sie hat nur noch über ihren Beruf gesprochen. Unsere Zukunft war kein Thema mehr. Bis ich ihr dann klar gesagt habe, sie müsse sich jetzt sofort wieder besinnen, sonst würde ich mich scheiden lassen.«
Ruhige und aufregende Zeiten
Damit an dieser Stelle kein Missverständnis entsteht: Krisen sind der Indikator und das Schwungrad von Entwicklungen, und dennoch kann es natürlich gute Gründe geben, über Vertrautes nicht hinauszugehen und Konflikte zu vermeiden. Selbst gesteckte Grenzen sind nicht automatisch Ausdruck von Erfahrungsdefiziten. Treue fußt etwa auf freiwilliger Begrenzung. Insbesondere in Verbindung mit einer erfüllten Sexualität ist Treue ein erheblicher Wohlfühlfaktor und erhöht das Empfinden, dass es der Beziehung an nichts mangelt.
Umgekehrt ziehen viele, die etwas vermissen, das Fremde schneller der gewohnten Heimat vor. Eifersucht auf mögliche Nebenbuhler und sexuell Erfahrene ist daher beileibe kein Hirngespinst. Je mehr Willkommenes eine Beziehung enthält, desto weniger kommt es zu neidvollen Blicken und Motiven, die sich im Außen erfüllen wollen. Die gute Balance zu finden zwischen einengender Moral und der potenziellen Freiheit individuellen Handelns, zwischen meinen und deinen Bedürfnissen, zwischen Gewohntem und Unbekanntem ist für die Praxis der Liebesbeziehung essenziell.
Selbstverständlich stimmt aber auch die Binsenweisheit, dass eine Beziehung nicht für alles aufkommen kann und nicht immer anregend ist. Sonst käme es gar nicht zu Defiziten, Konflikten und Krisen. Die Lust aneinander, die herausgehobene Wertschätzung füreinander und das erkennbare Bemühen um den anderen sind zwar entscheidende Trümpfe, der fühlbare Stoff, aus dem sich Bindungen momentan vorwiegend festigen. Die besondere Herausforderung heutiger Paare liegt aber darin, ihren Bestand nicht nur mit emotionalen Mitteln zu sichern, sondern immer wieder auch neue Wege zu suchen, die das Alte und Gewohnte stören. Das bekannte Terrain muss ab und an einer kritischen Inventur unterzogen werden.
Das war früher beileibe nicht so wichtig. Hinter den Ehen der Vergangenheit standen weniger die liebevollen Gefühle der Eheleute und die Hinterfragung des eigenen Lebenskonzepts als mächtige Familientraditionen, die zur Begründung und Fortbestand einer Beziehung verpflichtet haben. Der Anker der modernen Paarbeziehung liegt auf der persönlichen Bevorzugung des anderen und dem freiwilligen Spiel zu zweit.
Wenn zwei sich mit dem Herz finden, dann führt das anfänglich zu einer fröhlichen Anarchie. Die leidenschaftliche Liebe ist dann anfangs normalerweise ein sinnlicher Selbstläufer. Längerfristig bedarf es zum Gelingen aber auch heute einer höherrangigen Ernsthaftigkeit. Dabei ist es im Grunde egal, ob es weitere sinnstiftende Perspektiven neben der Liebe gibt, wichtig ist vielmehr, ob für den gemeinsamen Weg genügend Motivation existiert. Beispielsweise kann das Engagement eines Paares für ökologische Lebensthemen, an sich ein löbliches Unterfangen, als Bereicherung erfahren werden oder am Wohlbefinden zehren, je nachdem, wie es die Beziehung beeinflusst. Gemeinsame Anstrengungen stärken nicht automatisch eine Beziehung. Das folgende Beispiel zeigt, wie die Entwicklung der Beziehung aber auch von der Überwindung einer individuellen Krise profitieren kann.
Ein erfolgreicher Industrieller erleidet kurz nacheinander mehrere Herzinfarkte. Der behandelnde Arzt warnt davor, das bisherige Leben ungebremst fortzusetzen, sonst könne er für nichts mehr garantieren. Nach dem sich der Patient eindringlich mit seiner Frau beraten hat, beschließt das Ehepaar, die Zelte in Deutschland abzubrechen, nach Namibia auszuwandern und dort ein neues Leben anzufangen. Die beiden sind zu diesem Zeitpunkt bereits Mitte fünfzig. Man erwirbt ein Stück Land und baut sich ein Haus und lebt zurückgezogen. Von Anfang an sind sie überzeugt, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Bald erkennen sie auch, dass in der neuen Heimat einiges im Argen liegt, und gründen eine Ausbildungsstätte für junge Frauen. Diese ist bald so erfolgreich, dass sie heute als Vorzeigeprojekt gilt. Das Paar hat zu einem eher ungünstigen Zeitpunkt des Lebens einen Neuanfang gewagt und viel gewonnen. Nach einem erfüllten Leben sterben Mann und Frau im hohen Alter kurz hintereinander.
Grenzen und Grenzgänge
Meiner Meinung nach kommt eine tragfähige