Ausgeprägter Starrsinn ist Ausdruck einer unsicheren Persönlichkeit, unfähig zu empathischer Vermittlung und nicht bereit, die vielfältigen Erscheinungen und Widersprüche des Lebens hinzunehmen. Das entfaltet im Widerstand gegen das Ungute seinen Reiz, und deshalb fällt es oft nicht auf, wie unbescheiden und lieblos, ja geradezu verrückt diese Haltung ist. Lieblose Starre, wenn sie für das übergeordnete Bessere eintritt, kann sich lange hinter der guten Absicht tarnen.
Spätestens wenn es um die Bewältigung leidenschaftlicher Konflikte und Beziehungskrisen geht, bringt diese Haltung einen nicht mehr weiter. Dann entpuppt sich ein solches Gegenüber als Einfaltspinsel oder rachsüchtiger Tyrann. Das Beharren und Durchsetzen eindimensionaler Wahrheiten führt ja nicht zur Abwesenheit einer anderen Möglichkeit, Verbote nicht zur Stilllegung von Ambivalenz, sondern nur zu einer armseligen Realität, die nicht aus der Unterdrückung herausfindet.
Mitsingen, unterwerfen oder sich entfernen – mehr lässt eine Beziehung ohne Konjunktiv und Schwächen letztendlich nicht zu.
Einseitigen Menschen fehlt es an einem Verständnis für das Relative, die Brechungen des Lebens und das Vorübergehende. Ihr blinder Fleck ist das Sowohl-als-Auch. Ohne die Bereitschaft, im Miteinander Kompromisse einzugehen und sich selbst infrage zu stellen, kommt ein Liebespaar nicht über die erste Hürde hinweg. Das Zuhause der Liebe will ohne Angst und Abwertung bleiben. Theodor W. Adorno, der die Philosophie klassisch auslegte als Lehre des richtigen Lebens, arbeitete entlang dieser Überzeugung. So ist auch sein berühmter Satz zu verstehen: »Geliebt wirst du einzig, wo du schwach dich zeigen darfst, ohne Stärke zu produzieren.« (Adorno 2002)
Liebende registrieren primär, ob sie gut behandelt werden. Alleine deshalb ist es dumm, eine Liebesbeziehung rechthaberisch zu dominieren. Freundschaften und Liebesbeziehungen kann auch der vornehmlich Schwächere aufkündigen, wie das Romanbeispiel vor Augen führt.
Selbstentwicklung und Selbsterhaltung
Eine weitere Ambivalenz, die sich in Beziehungen – neben dem eben angesprochenen Verhältnis von Eigenständigkeit und Unterordnung (Autonomie und Bindung) – gewichtig bemerkbar macht, besteht im bereits angesprochenen Gegensatz zwischen Selbstentwicklung und Selbsterhaltung. Dabei handelt es sich um einen ähnlich schwierig zu jonglierenden Kontrast.
Was zeigt einem Paar eigentlich an, dass etwas fehlt? Wann wird es Zeit für etwas Neues und wann ist es sinnvoll, das Gewohnte zu bewahren, das Alte vielleicht sogar wiederherzustellen?
Es ist charakteristisch für intime Beziehungen, dass sie auf Verwandlungen des Selbst hinauslaufen. Die Liebe steuert immer auf eine bewegliche Wirklichkeit zu, die erst im leidenschaftlichen Prozess zum Vorschein kommt. Am Anfang wird man geliebt, weil man ist, wie man ist. Später mehr dafür, dass man sich auf das Andere des anderen wohlwollend einlässt. Noch später, indem man die Untiefen und Defizite des anderen großzügig erträgt und ausgleicht. Und noch viel später, indem man darüber nicht die Gabe verliert, sich für den anderen attraktiv zu machen und dem Partner ein wohlwollender Spiegel bleibt.
»Ich halte es kaum noch aus, wie er sich heute gehen lässt. Das ist nicht mehr der Mann, der um mich geworben hat. Früher ging es mir schon alleine deshalb gut, weil er sich für mich schön gemacht hat und Freude daran hatte, die Zeit mit mir zu verbringen. Und heute? Heute fläzt er sich vor den Fernseher und will nicht gestört werden, wenn seine Sendungen kommen. Heute ist es ihm egal, was er anhat und wie ich das finde. Ich glaube, ich bin nach all den Jahren nichts weiter für ihn als seine gewohnte Umgebung. … Wenn ich mal nicht mehr bin, dann wird er sich verwundert umgucken, da bin ich mir sicher. Dann ist es aber zu spät.«
Die Entwicklungen innerhalb einer Liebesbeziehung sind eine zweischneidige Angelegenheit. Über eine lange Zeit betrachtet kommt es zu mehreren großen Wahrnehmungsverschiebungen, die sich in der Tendenz nicht verhindern lassen. Sie finden einfach statt, weil man zusammen ist. Andererseits tut aber nicht jede Entwicklung und nicht jedes Ausmaß an Veränderung der Beziehung gut. Wie das Beispiel zeigt, leidet die Qualität einer Beziehung darunter, sich gehen zu lassen. Es ist ein schmaler Grad zwischen Lässigkeit und Vernachlässigung.
Scham und Schuld
Eine zentrale Rolle im Zusammenhang leidenschaftlich bedingter, zwangsläufiger Transformationen spielt, neben der grundlegenden Gewöhnung an das vorher Ungewöhnliche, die Erfahrung von Scham und Schuld. Scham und Schuldempfindungen verlangen eine Beziehungskultur, die es zulässt, über diese Empfindungen hinauszuwachsen, und gleichzeitig so sensibel bleibt zu erkennen, wann es für eine Beziehung eher förderlich ist, Schamgrenzen einzuhalten, und wann eine Schuld, die zunächst von einer Person ausgeht, einen Ausgleich von beiden Partnern verlangt.
Scham schützt auf komplizierte Weise die Integrität der Person. Der beschämte Mensch gerät zunächst in einen gehemmten Zustand, der von überflutenden Empfindungen begleitet wird. Ein unaussprechliches Geschehen gräbt sich tief in die Seele und will verborgen werden. So zwingt die Scham zur Verheimlichung, quält aber die beschämte Person doppelt, weil sie die unangemessene Erfahrung nicht teilen kann. Das Wieder-ins-Wort-Finden braucht ein einfühlsames Gegenüber, der anblicken und darüber sprechen kann, was dem Beschämten nicht möglich ist, selbst auszudrücken und zu betrachten.
Scham enthält auch die Enttäuschung über sich selbst. Ich habe eine an mich gestellte Erwartung nicht erfüllt. Denn Scham begründet sich ja nicht einfach durch eine Tatsache, sondern entsteht durch eine moralische Bewertung, die dem Blick oder der Tat innewohnt. Etwas darf nicht gesehen oder getan werden. Schamreaktionen verlangen von den unmittelbar Beteiligten ein sofortiges Innehalten und den gesenkten Blick.
Ungebremste Handlungen, die eine Schamgrenze spürbar überschreiten, setzen den Akteur ins Unrecht. Er macht sich schuldig, verantwortlich für eine entwürdigende Szene zu sein. Wobei zum Schuldenausgleich bereits die sichtbare Beschämtheit und nachträglich einsetzende Hemmung des Täters gehören kann. In Fällen zufälliger Grenzüberschreitungen ist es damit meist wieder getan. Zeigt der Täter oder nicht zum Anschauen Befugte kein Schuldempfinden, beziehungsweise wird seine schamlose Handlung als nachdrücklich entwürdigend wahrgenommen, führt es zu Selbstabwertungen des Beschämten, zu Distanzierung und vielleicht auch zu Rachegelüsten.
Eines Tages passiert, was nicht passieren sollte. Ein Ehemann, gehemmt und in sexuellen Dingen eher sprachlos, wird von seiner Frau dabei ›ertappt‹, wie er sich selbst befriedigt. Sie lacht hysterisch und rennt aus dem Zimmer, er erstarrt und weiß nicht damit umzugehen. Er bleibt hilflos in seinem Arbeitszimmer sitzen. Was die Sache noch schlimmer für ihn macht, ist, dass sie nach einer Weile an die Tür klopft und ruft: »Bist du endlich fertig? Kommst du, unten steht das Abendessen, ich habe Hunger.« Er rennt danach durch die Küche, brüllt sie an, sie sei eine saudumme Kuh und sie könne sich ihren Scheißfraß in die Haare schmieren und verlässt Türen schlagend das Haus. Die Nacht verbringt er auf dem Sofa im Wohnzimmer. Am nächsten Morgen redet niemand ein Wort, weder der beschämte Ehemann noch die beschuldigte Ehefrau. Man schiebt sich stumm aneinander vorbei und er geht ohne Frühstück zur Arbeit.
Die Moralmerkmale Scham und Schuld stehen in der Liebe auf wackeligen Beinen. Die Praxis der Liebe beruht auf einer ineinander verschlungenen und sensibel zu handhabenden Doppeldeutigkeit: Einerseits überschreiten zwei freiwillig eine Schamgrenze, die für andere weiter besteht. Sie geben sich füreinander frei. Das ist ein Hauptkriterium der Paarbildung. Andererseits steht das Liebesobjekt auch innerhalb der neu geschaffenen Intimität nicht zur freien Verfügung. Je nach dem, wie die gemeinsame Gratwanderung jener schamlosen Schamhaftigkeit gelingt und welche Befriedigung oder welches Gefühlselend das nach sich zieht,