4 zit. nach Assman, J. (2006): Thomas Mann und Ägypten. München (C. H. Beck)
2. Gefühlswelten
Alles, was von den Menschen getan und erdacht wird, gilt der Befriedigung gefühlter Bedürfnisse sowie der Stillung von Schmerzen.
Dies muss man sich immer vor Augen halten, wenn man geistige Bewegungen und ihre Entwicklung verstehen will.
Denn Fühlen und Sehnen sind der Motor alles menschlichen Strebens und Erzeugens, mag sich uns Letzteres auch noch so erhaben darstellen.
Albert Einstein (Mein Weltbild)1
Häufig benennen wir Gefühle als Ursache bzw. Gründe für unser Handeln. So werden Angst, Wut oder Lust als Motive bezeichnet, wenn wir z. B. sagen: »das habe ich aus Angst getan« oder »ich habe es getan, weil ich wütend war« oder »ich hatte einfach Lust, das zu tun« usw. Mit solchen Aussagen benennen wir Gefühle als die Verursacher unserer Handlungen. Doch das sind Kurzschlüsse – Gefühle sind nicht die Ursache und nicht die Motive für Handlungen – sie sind die Auslöser für unser Tun bzw. Nichttun. Gefühle sind das Kommunikations- und Signalsystem des Organismus im Dienste der Bedürfnisse.
Das Gebiet der Emotionsforschung ist riesig und vielfältig. Je nach Wissenschaftsgebiet werden verschiedene Perspektiven eingenommen und unterschiedliche Teilbereiche angeschaut. Abgesehen von philosophischen Betrachtungen einzelner Emotionen (wie z. B. Sloterdijks Werk Zorn und Zeit, das sich ganz dem Gefühl des Zorns in all seinen Facetten widmet), gibt es im Groben fünf Denkrichtungen: Die physiologische Theorie, die kognitivistische Theorie, die kulturrelativistische Theorie, die evolutionspsychologische Theorie und die soziologische Sichtweise.
Die physiologische Theorie besagt, dass Emotionen aufgrund körperlicher Vorgänge entstehen. Während wir üblicherweise meinen, dass das Gefühl der Angst einen flacheren Atem oder Zittern auslöst, fanden die Vertreter der physiologischen Theorie heraus, dass wir deshalb Angst spüren, weil unser Atem flach ist oder weil wir zittern. Unser Organismus sorgt in Bruchteilen von Sekunden für die körperlichen Reaktionen, die in Bedrohungssituationen notwendig sind für Flucht oder Kampf. Das geschieht, noch bevor das dazugehörige Gefühl der Angst in unser Bewusstsein kommt. Dabei wird zwischen Empfindungen und Emotionen unterschieden. Als Empfindung wird die Wahrnehmung der körperlichen Befindlichkeit bezeichnet, aus der wiederum eine Emotion, ein Gefühl entstehen kann.
Die Vertreter der kognitivistischen Theorie sind der Meinung, dass es nicht die Ereignisse sind, auf welche die Menschen mit Gefühlen reagieren, sondern ihre Vorstellungen über diese Ereignisse. Sie interessieren sich vor allem für die Denkvorgänge und haben herausgefunden, dass wir bewusst oder unbewusst ständig an alles, was wir wahrnehmen, ein Bewertungsraster anlegen und unsere Emotionen dann durch diese Bewertungen ausgelöst werden. So lässt z. B. eine Mischung der Bewertungen unerfreulich + unvorhergesehen + fremdverursacht ein Gefühl des Zorns entstehen.
Ganz sicher ist es so, dass wir dieses unaufhörliche Bewertungsraster in unseren Denkprozessen haben – allein es greift zu kurz, die Gefühle nur auf diese Bewertungen zurückzuführen. Die kognitivistische Theorie betrachtet einen den Empfindungen und Gefühlen nachgelagerten Denkprozess, aus dem dann weitere Emotionen resultieren. Der Neurowissenschaftler Joseph Ledoux drückt das so aus: »Die Bewertungstheorien haben sich mehr mit Anlässen als mit Ursachen befasst.«2 So bemängelt z. B. auch Antonio Damasio,3 einer der führenden Emotionsforscher, dass sich die Kognitionswissenschaft weder mit der Homöostasefunktion noch mit der organismischen Funktion der Emotionen beschäftige. Für ihn gehört die Emotion untrennbar zur Logik des Überlebens.
Die kulturrelativistische Theorie vertritt die Ansicht, dass es keine angeborenen universalen Gefühle gibt, sondern dass Gefühle Teile einer Kultur seien, die in der Kindheit und Jugend sozialisiert, d. h. gelernt werden, und dass es dementsprechend in unterschiedlichen Kulturen und unterschiedlichen Epochen auch unterschiedliche Gefühle gibt. So zogen die Verfechter der kulturrelativistischen Position beispielsweise die Beobachtung der kanadischen Anthropologin Jean Briggs, dass die Angehörigen des Volks der Inuit niemals in Zorn gerieten, als Beweis dafür heran, dass Zorn keine universale menschliche Emotion sei. Tatsache ist jedoch, dass Briggs (sie lebte in den Sechziger-Jahren längere Zeit bei den Inuit in den West-Northern-Territories) zwar beobachten konnte, dass bei den Inuit Zorn niemals gezeigt oder ausagiert wurde, dass dies aber nur darauf zurückzuführen war, dass er in höchstem Maße kontrolliert wurde. »Die Kontrolle der Emotionen genießt bei den Eskimos hohe Wertschätzung, und wenn sie unter den beschwerlichsten Umständen ihren Gleichmut bewahren, gilt das als wichtigstes Zeichen von Reife, von einer Erwachsenen-Haltung.«4 Die Inuit bewerten zorniges Verhalten als »nutaraqpaluktuq«, das bedeutet ungefähr kindisches Benehmen. Diese Zuschreibung zeigt, dass die Inuit den Zorn also durchaus bei ihren Kindern beobachten, sonst könnten sie ihn nicht als kindisch bewerten, die Erziehung aber dann stark dahingehend wirkt, dass das Erleben und der Ausdruck von Zorn strikt unterdrückt wird. In einer so unwirtlichen Gegend (bis in die Fünfziger-Jahre hatten Hungersnöte die Eskimostämme dezimiert) ist eine uneingeschränkte Solidarität innerhalb der Gruppe die Voraussetzung zum Überleben. Der Zorn mit all seinen Risiken – wie Spaltung der Gruppe oder Ächtung von Einzelnen – wurde als zu gefährlich betrachtet, um toleriert zu werden.
Die langjährige Vormachtstellung der kulturrelativistischen Theorie ist inzwischen durch viele Forschungen der letzten Jahrzehnte massiv in Frage gestellt worden. Wie das Beispiel der Inuit zeigt, liegen die kulturellen Unterschiede nicht darin, dass die Menschen in verschiedenen Kulturen unterschiedliche Gefühle hätten, sondern dass in verschiedenen Kulturen die Emotionen je nach ihren gesellschaftlichen Bedürfnissen unterschiedlich bewertet und dementsprechend ihre Wahrnehmung und ihr Ausdruck unterschiedlich sozialisiert werden. So ist z. B. das Gefühl des Ekels universal – wovor sich Menschen in unterschiedlichen Kulturen und Epochen ekeln, ist jedoch sozialisiert. Genauso ist auch das Gefühl der Angst universal – wovor sich Menschen ängstigen ist jedoch kulturell und zeitgeistig unterschiedlich.
In der evolutions-psychologischen Theorie wird der Standpunkt vertreten, dass wir Emotionen verspüren, weil sie unserem Überleben dienen. Die Vertreter dieser Position sind überzeugt, dass Emotionen sich im Laufe der menschlichen Entwicklungsgeschichte durch viele Selektionen herausgebildet haben und zu unserem genetischen Erbe gehören. Darwin hielt sechs Emotionen für universal: Freude, Überraschung, Traurigkeit, Angst, Ekel und Zorn. Dafür spricht, dass sich emotionale Reaktionen wie Erschrecken (als eine Form von Überraschung), Freude, Angst, Ekel und Zorn beim Menschen schon im frühesten Säuglingsalter zeigen – eine Tatsache, die der Theorie, dass Gefühle nur aus Denkprozessen entstehen, entgegensteht.
Ein berühmter Neurowissenschaftler auf dem Gebiet der Emotionsforschung ist Joseph Ledoux. Auch er hält die Emotionen für Funktionen des Organismus, die dem Überleben dienen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass wir eine neue Herangehensweise an das emotionale Gehirn brauchen, weil die Theorie vom limbischen System im Gehirn als Sitz der Emotionen überholt sei, da kaum etwas für die Existenz dieses Systems oder für seine Beteiligung an der Emotion spreche: »Die Theorie des limbischen Systems war eine Theorie der Lokalisation. Sie wollte uns verraten, wo die Emotion im Gehirn angesiedelt ist. Doch McLean und spätere glühende Verfechter des limbischen Systems konnten uns nicht verlässlich sagen, welche Teile des Gehirns denn nun tatsächlich zum limbischen System gehören. […] Aus heutiger Sicht bestand sein Fehler wohl darin, das ganze emotionale Gehirn und seine Evolutionsgeschichte in ein einziges System zu packen. […] Die Emotionen sind sehr wohl Funktionen, die dem Überleben dienen. Da die einzelnen Emotionen aber