Neben den philosophischen, anthropologischen, neurobiologischen und psychologischen Wissenschaften haben sich auch die Soziologen mit Emotionen beschäftigt. Der soziologische Blick auf Emotionen ist vor allem geprägt von Fragestellungen im Zusammenhang mit der Gesellschaft, z. B. wie Emotionen sozial geprägt werden und welche Wirkungen sie zeitigen. Die Beschäftigung der Soziologie mit den Emotionen ist noch nicht sehr alt, weil angeblich die Väter der Soziologie die Emotionen als soziologisch ungeeignete Untersuchungsgegenstände ablehnten. Wie Flam6 ausführt, entstand eine ausgesprochene Soziologie der Emotionen erst etwa Mitte der 1970er-Jahre in den USA mit Untersuchungen von Funktion und Einfluss von Emotionen in ausgewählten eichen wie z. B. im Umgang mit Geld, in der Politik oder am Arbeitsplatz. Inzwischen wird der Erforschung des Zusammenhangs von sozialen Strukturen und Emotionen viel Aufmerksamkeit gewidmet.
Die Entdeckung der Spiegelneurone des italienischen Hirnforscherteams um Giacomo Rizzolatti7 hat nun die Emotionsforschung auf fundamentale Weise bereichert. Die Spiegelneuronen bieten nicht nur die biologische Erklärung für Phänomene wie Mitgefühl und Mitleid, sondern auch dafür, wie es möglich ist, von Gefühlen – und damit Bedürfnissen und Motiven – anderer infiziert zu werden. Die Wissenschaftler der Universität von Parma fanden Nervenzellen, in denen sich spiegelt, was andere tun und welche Gefühle sie zum Ausdruck bringen – und nannten diese Nervenzellen ›Spiegelneurone‹. Das bedeutet, dass dann, wenn wir eine Handlung beobachten, unsere Spiegelneurone genauso funken, wie sie es im Falle der eigenen Handlung tun, und wenn wir bei jemandem starke Gefühle wahrnehmen, dann funken unsere Spiegelneurone genauso, wie wenn wir selbst diese Gefühle hätten. Diese Spiegelneurone sind zuständig für Empathie und Mitleid, für unsere Einfühlungsfähigkeit; so sind sie z. B. auch dafür verantwortlich, wenn wir bei traurigen Filmen weinen oder uns bei gruseligen Psychoschockern fürchten (sofern wir uns nicht ständig bewusst machen, dass wir nur Zuschauer eines Kunstprodukts sind). Sie sind auch für das Phänomen verantwortlich, das in der Massenpsychologie schon lange als Resonanzphänomen bezeichnet wird.8 Das heißt, dass Gefühle einer Menschenmenge auf bisher Unbeteiligte ›überspringen‹ und dadurch bei diesen die gleichen Gefühle entstehen. Das gilt jedoch nicht nur für die Massenpsychologie, sondern für jede zwischenmenschliche Beziehung.9 Jeder von uns kennt das Phänomen, dass sich unser Gefühlszustand durch den Gemütszustand eines Gesprächspartners stark verändern kann, dass man sich von Gefühlen anstecken bzw. ›ergreifen‹ lässt. Der Hirnforscher Christian Keysers drückt das so aus: »Unser Gehirn ist bei weitem nicht so privat, wie wir dachten. Es erlebt die Zustände anderer Menschen mit.«10
Die Sprache von Körper und Psyche
Neben meinen phänomenologischen Erkenntnissen aus der psychologischen Praxis hat mir das Studium der Weltliteratur (Beispiele im Kapitel Ein Blick Jahrtausende zurück) gezeigt, dass sich durch alle Kulturen und Epochen hinweg die gleichen Gefühle nachweisen lassen und vor allem, dass sie immer im Dienste der Bedürfnisse stehen. Damit dienen Gefühle tatsächlich dem Überleben, wie es sowohl physiologische als auch psychologisch-evolutionäre Theorien postulieren – doch ihre Funktion geht weit darüber hinaus, denn sie dienen nicht nur dem Überleben, sondern auch der Entwicklung der Persönlichkeit, der Entfaltung unserer menschlichen Potenziale und der Wegbereitung unserer Fähigkeiten. Sie sind das Kommunikationsmittel innerhalb des Individuums und ein Kommunikationsmittel zwischen Individuum und Umwelt.
Gefühle stehen immer im Dienste der Bedürfnisse
Die genaue Betrachtung unserer körperlichen Bedürfnisse zeigt den grundlegenden Prozess auf. Viele Bedürfnisse des Körpers erfüllt er sich selbst autonom, ohne dass wir etwas tun müssen, zum Beispiel sein Bedürfnis nach Zellteilung, Zellwachstum, Zellzerfall und er regelt selbst seine Temperatur, Verdauung, Herzkreislauf usw. entsprechend den organismischen Homöostase-Bedürfnissen.
Doch wenn unser Organismus (Körper und Psyche) Bedürfnisse hat, die von uns handelnd befriedigt werden müssen, dann kommuniziert er uns das. Seine Kommunikationsmittel sind die Empfindungen, Gefühle, Emotionen und Affekte. Er zeigt uns über Gefühle, was er braucht. Wenn er Nahrung braucht, fühlen wir uns hungrig; wenn er Flüssigkeit braucht, fühlen wir uns durstig; wenn er Kontakt braucht, fühlen wir uns wach; wenn er Schlaf braucht, fühlen wir uns müde; wenn er sich entleeren will, fühlen wir einen Drang; wenn er Wärme braucht, dann frieren wir; wenn er nach Sexualität verlangt, zeigt er das über Lustgefühle; wenn er eine Vermeidung eines schädlichen Einflusses oder eine Heilbehandlung braucht, dann fühlen wir Schmerz, usw. Wenn also z. B. jemand sagt, »ich habe gegessen, weil ich hungrig war«, dann benennt er nicht die Ursache, die ihn zum Essen veranlasst hat, sondern er benennt das Kommunikationsmittel, mit dem ihm sein Körper kundgetan hat, dass er ein Nahrungsbedürfnis hat. Hunger ist kein Bedürfnis, sondern das Gefühl, mit dem das Bedürfnis gemeldet wird.
Also immer, wenn der Körper etwas braucht, was unser Handeln erfordert, meldet er das in Form von Empfindungen und Gefühlen. Sie sind die Sprache des Körpers, mit denen er uns eine Botschaft gibt.
Mit Psyche und Seele verhält es sich genauso. Auch sie melden uns ihre Bedürfnisse durch Gefühle. Auch ihr Kommunikationsinstrument sind die Gefühle.
Gefühle sind die Sprache des Körpers und unserer Seele, mit denen sie uns kundtun, dass sie etwas brauchen oder wenn sie frustriert sind; über Gefühle zeigen sie uns, wenn sie gesättigt bzw. befriedigt sind; über Gefühle zeigen sie uns, wenn sie übersättigt sind, und über Gefühle zeigen sie uns, wenn ein Befriedigungszustand bedroht ist.
Wenn ich in diesem Zusammenhang von Gefühlen spreche, mache ich keinen Unterschied zwischen Empfindungen, Emotionen, Gefühlen und Affekten, wie es in der psychologischen und philosophischen Literatur vielfach gemacht wird.11 So macht z. B. Antonio Damásio den Vorschlag, zwischen Emotionen und Gefühlen dergestalt zu unterscheiden, dass als Emotionen bezeichnet wird, was nach außen gerichtet und öffentlich sichtbar ist, und als Gefühle zu bezeichnen, was innerlich subjektiv erlebt wird.12 Ich mache auch keinen Unterschied zwischen nichtmoralischen und moralischen Emotionen, womit sich z. B. Wollheim vertieft beschäftigt hat.13 Denn ob moralische oder nichtmoralische Emotion, ob Empfindung, Gefühl oder Affekt – sie alle stehen im Dienste der Bedürfnisse und haben die Aufgabe, unser Bewusstsein auf den Zustand eines Bedürfnisses aufmerksam zu machen und unsere Wahrnehmung, unser Denken und unser Handeln in eine bestimmte Richtung zu lenken. So werden moralische Gefühle z. B. immer durch das Bedürfnisfeld Gerechtigkeit/Ideale ausgelöst. Zu jedem der Grundbedürfnisse gehören jeweils entsprechende Gefühle, mit denen sie sich ausdrücken. Um das an zwei Beispielen deutlich zu machen: Das Bedürfnis nach Rache drückt sich immer durch Gefühle von Ärger, Wut, Zorn und/oder Zerstörungslust aus – niemals durch Gefühle von Liebe, Fürsorge oder Angst. Dagegen drücken sich Bedürfnisse nach Bindung/Gemeinschaft durch Gefühle von Zuneigung, Liebe, Dazugehörigkeit, Fürsorge, Sehnsucht nach jemandem, Heimweh, usw. aus – aber nie durch Gefühle von Ärger, Wut oder Zorn. Werden jedoch Versuche zurückgewiesen, das Bedürfnis nach Gemeinschaft zu befriedigen, dann kann als Reaktion Ärger, Wut und Zorn entstehen – Gefühle, mit denen uns die Psyche kommuniziert, dass ein Bedürfnis frustriert wurde. Es können als Reaktion auf die Frustration aber auch Trauer und Niedergeschlagenheit entwickelt werden. Ob Zorn- oder Trauer-Gefühle uns signalisieren, dass ein Bedürfnis frustriert worden ist, hängt von unserer Bewertung ab (im Sinne der kognitiven Theorie). Meinen wir z. B., dass wir