Von daher verlangen die Verhältnisse nach Integration der unterschiedlichen Interessen, der freien Entfaltung des menschlichen Potenzials, nach authentischen Persönlichkeiten, universaler Menschenwürde, gegenseitigem Respekt und dem Er- und Anerkennen von Bedürfnissen und Motiven, zuvorderst bei Führungskräften und politisch Verantwortlichen.
Wir stehen am Beginn einer neuen Epoche. Das Alte stirbt, und das Neue ist noch nicht geboren. Statt verantwortungslos zu polarisieren, sollte die Fähigkeit zum Miteinander gewollt, gelernt und praktiziert werden – von der Mikro- bis zur Makroebene. Nicht die Gier, sondern die Balance zwischen Vernunft und Emotion sollte der Grundstock für ein modernes und zukunftsträchtiges Beziehungsfeld sein, mit ausgeglichenen Menschen, Institutionen, Unternehmen und Systemen.
Das Buch könnte die wertvolle Grundlage für eine bessere Ordnung bilden und zu einer kulturellen Erneuerung im engeren ästhetischen wie im weiteren anthropologischen Sinne führen.
Gerd Lobodda
Vorwort
Seit der ersten Begegnung mit Evelin begeisterte uns die Art, wie sie arbeitete, Erkenntnisse gewann und hinter die Kulissen menschlichen Handelns schaute. Besonders faszinierte uns ihr verständnisvoller und wohlwollender Blick auf die menschlichen Dramen und Verstrickungen, ohne zu moralisieren.
Evelins Buch liest sich wie eine Reise durch die Geschichte der Menschheit. Sie macht deutlich, was uns Menschen kulturübergreifend verbindet, was uns motiviert und bewegt. Das Wissen darum, dass bestimmte Bedürfnisse und Gefühle allen Menschen inhärent sind, ermöglicht eine neue Sichtweise auf das, was uns zunächst fremd erscheint. So werden Erkenntnisse möglich, die den eigenen Handlungsspielraum erweitern und zu konstruktiven Lösungen führen können.
Die Beschäftigung mit ihrem Buch war für uns beide ein tiefgreifender Prozess, in dem wir ihre Theorie hautnah spüren, erleben und nachvollziehen konnten. Wir befanden uns immer mal wieder festgefahren auf unterschiedlichen Polen. Ausgedehnte Waldspaziergänge mit sehr lebendigen Diskussionen brachten uns nicht nur körperlich, sondern auch geistig wieder in Bewegung. Und so erfuhren wir, wie bereichernd und belebend das flexible Wandeln zwischen den Polen sein kann.
Es war uns ein Herzensanliegen, Gerd darin zu unterstützen, Evelins Lebenswerk zu veröffentlichen. Und möglichst vielen Menschen die Gelegenheit zu geben, mit Hilfe ihrer Theorie eigene Antworten auf die Frage »Warum tue ich, was ich tue?« zu finden. Nehmen Sie sich Zeit und genießen Sie die Lektüre, denn Sie werden merken, es ist kein leichter Snack für zwischendurch, sondern ein mehrgängiges Menü mit vielen Überraschungen.
Wir wünschen Ihnen viel Freude beim Lesen!
Sabine Sohn und Manuela Manderfeld
Bonn, im Juni 2016
Einleitung
Kürzlich las ich im Vorwort des Philosophen Charles Taylor zu seinem Werk Quellen des Selbst: »Die Arbeit an diesem Buch ist mir schwer gefallen. Sie hat zu viele Jahre in Anspruch genommen, und einige Male habe ich meine Meinung darüber geändert, was darin stehen sollte. Einesteils lag das an dem altbekannten Grund, dass ich mir nicht im Klaren war über das, was ich sagen wollte. Andernteils lag es an der überaus ehrgeizigen Natur des Unterfangens, …«1 Ich war glücklich, in diesen Worten eine so genaue Beschreibung meiner eigenen Gefühle zu meinem vorliegenden Buch zu finden. Ich selbst hätte es nicht so gut ausdrücken können.
Es war ein langer Weg der Forschung und praktischen Arbeit, bis ich bei den jetzigen Ausführungen des Buches gelandet bin. Seit mehr als zwanzig Jahren beschäftige ich mich mit der Frage, warum und wozu Menschen das tun, was sie tun, und warum sie fühlen, was sie fühlen, und erleben, was sie erleben. Doch viele Jahre war mir nicht bewusst, dass in diesen Fragen, die ich als begrenztes Thema der Motivationspsychologie angesehen habe, das grundlegende Thema unseres Menschseins liegt. Denn in der Frage »Warum oder wozu tun wir das, was wir tun?« steckt nicht nur die Suche nach unseren individuellen Motiven. Sie ist auch grundlegend für die Frage, ob wir unser Handeln und unser Leben als sinnvoll erleben und inwieweit es von unserem freien Willen bestimmt ist.
Als ich Anfang der 1990er-Jahre an meinem Buch Die Weisheit des Erfolgs schrieb, wurden mir im Laufe des Schreibens – verbunden mit den Erfahrungen aus meiner Praxis – die Zusammenhänge und dynamischen Prozesse zwischen Bedürfnissen, Motiven und Kränkungen immer deutlicher bewusst. Damals erkannte ich jedoch die ungeheure Dimension der Zusammenhänge noch nicht – zu eingeengt war mein Blickwinkel auf die Fragen gerichtet, worin sich erfolgreiche Menschen von nicht-erfolgreichen unterscheiden, wie sich persönliche Autorität entwickelt und welche Rolle Kränkungen dabei spielen.
Diese Konzentration auf die Entwicklung von persönlicher Autorität war durch meine Erfahrungen in der psychologischen Praxis entstanden. Damals, Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre wurde es in Organisationen modern, darüber nachzudenken, wie man Mitarbeiter motivieren könnte durch spezielle Maßnahmen. Ich kam durch die Arbeit mit meinen KlientInnen jedoch immer mehr zu der Überzeugung, dass es viel wichtiger wäre, die Mitarbeiter nicht zu demotivieren.
Ein kleines Beispiel
»Ich freue mich sehr auf die neue Arbeit,« sagte meine Klientin eines Tages in einer
Therapie-Sitzung, »diese Stelle ist genau das, was ich mir schon lange wünsche – ich kann es kaum erwarten, mich in die Arbeit zu stürzen!«
»Mein neuer Chef ist nicht schlecht«, sagte die Klientin zwei Monate später, »und mit meinen Kollegen komme ich auch ganz gut klar. Was mich ärgert, ist diese ineffiziente Arbeitsorganisation – aber als ich einen Vorschlag zur Verbesserung gemacht habe, uuuhh, da sind die Eiszapfen von der Decke gefallen!«
»Man muss halt in die Arbeit, weil man seinen Lebensunterhalt verdienen muss – ich werde mir dort bestimmt kein Bein mehr ausreißen!«, sagte die Klientin weitere zwei Monate später.
Obwohl von der anfänglichen Freude und der hohen Arbeitsmotivation nicht viel übrig geblieben war, war sich die Klientin der abgelaufenen Dynamik nicht bewusst. Sie registrierte nur, dass ihr die Lust und Freude vergangen war, dass sie eher überdrüssig zur Arbeit ging und die Arbeit nur noch als notwendiges Übel ansah. Erst bei der tieferen Betrachtung dessen, was da nun genau geschehen war, kam sie zu der Erkenntnis (und ich mit ihr), dass sie sich mit ihren Vorschlägen, d. h. ihrer Kreativität und ihrem Engagement, missachtet fühlte, dass sie sich durch hämische Bemerkungen eines Kollegen herabgesetzt und beschämt fühlte, dass sie sich durch ihren Vorgesetzten nicht gesehen und nicht unterstützt fühlte; kurz: dass sie gekränkt war. Und dass ihre unbewusste Rache für die zugefügten Kränkungen darin bestand, nur noch ›Dienst nach Vorschrift‹ zu machen.
Durch die Analyse von Kränkungen (und ihrer Rachedynamik) rückten die psychischen Grundbedürfnisse in den Mittelpunkt meines Interesses: Was sind das für Bedürfnisse, deren Frustration als Kränkung empfunden wird?
Und was sind das für Bedürfnisse, deren Befriedigung sogar schwere Situationen mit Leichtigkeit ertragen lassen? Mir waren in diesem Zusammenhang nämlich Erzählungen meines Vaters eingefallen.
Ein Beispiel:
Mein Vater, Jahrgang 1923, litt sehr unter der Trennung von seinen Eltern und sechs Geschwistern, als er mit 13 Jahren den elterlichen Bauernhof verlassen musste, um eine weit entfernte Lehrstelle antreten zu können. Eigentlich gab es damals kaum die Möglichkeit für einen Bauernbuben aus der Oberpfalz, einen Beruf zu erlernen, und so war es ein großes Glück, dass meine Urgroßmutter diese Schlosser-Lehrstelle in einer Landmaschinen-Werkstatt