Wie immer bei Metaphern gilt es, sich von ein paar Unstimmigkeiten ab- und den Kernaussagen zuzuwenden: Gespenster und Dämonen sind ungemütlich, gelegentlich boshaft, manchmal auch unheimlich, solange man an sie glaubt. Sie werden schnell entzaubert, wenn sie auf Rationalität und Überzeugung stossen, hier auf die pädagogische Überzeugung, dass sich unsere Lernenden grundsätzlich weiterentwickeln wollen, dass sie mit Ressourcen ausgestattet sind, deren Potenzial es zu nutzen gilt für gelingendes Lernen. Eine zentrale pädagogische Aufgabe besteht darin, stereotype Attribuierungsreflexe zu durchbrechen, und dabei hilft, um die Gespenster-Metapher ein letztes Mal zu bemühen, die Gewissheit, dass Lerngespenster keine realen Lernhemmer sind, sondern nur allzu oft bequeme Vorwände, um eigenes Handeln nicht überdenken zu müssen.
Normierungsfalle
Das Problem von Normierungen, ganz egal, auf welchem Gebiet, ist in aller Regel nicht die Norm, sondern die Normabweichung. Wie aufgezeigt, liegen der Diagnostikfalle und der Stützkursfalle festgestellte Normabweichungen zugrunde. Eine Fundgrube für normative Vorstellungen, was Lernende benötigen, um zu reüssieren, sind Lehrpläne mit ihren verbindlichen Setzungen. Solche findet man in Form von Lernzielen, Handlungskompetenzen, Pflichtprodukten, Begriffen usw., und als verbindliche Vorgaben sind sie auch bewertungsrelevant. Beispiele gewünscht? In aktuell gültigen Schullehrplänen für den allgemeinbildenden Unterricht an Berufsfachschulen stehen solche Lernziele: «den eigenen Lerntyp beschreiben», «Mindmap anwenden», «die gesellschaftliche Stellung der Berufslehre und der Berufslernenden im geschichtlichen Zusammenhang erklären». Mit Verlaub, man kann eine Matura und ein Universitätsstudium abschliessen, ohne die geringste Ahnung von seinem Lerntyp zu haben und ohne je eine Mindmap gezeichnet zu haben. Das drittgenannte Lernziel scheint mehr ein professioneller Standard für Lehrpersonen zu sein als ein notwendiges Basiswissen, das Lernende im ersten Lehrjahr einer dreijährigen Ausbildung im Rahmen von acht Lektionen erwerben sollten. Auch die als verbindlich erklärten Begriffe wie «Oligopole», «Dubliner Abkommen», «drei Pfeiler der EU» oder «Zersetzer» (unter dem Aspekt Ökosysteme) in einem Lehrplan für dreijährige Berufslernende wirken schon ziemlich bizarr.
Die eigentliche Perfidie der Normierungsfalle sind unausgesprochene Normen in Form von Erwartungen, von Durchschnittswerten oder «Normalverhalten», die zum Massstab genommen werden, mit dem man Menschen vermisst, die weder von der Existenz dieses Massstabs, geschweige denn von dessen Skalierung Kenntnis haben. Solche Normvorstellungen geistern dann in einzelnen Köpfen herum, gelegentlich auch als kollektive Normen in Kollegien, und haben den Effekt, dass sie zu impliziten Kriterien für die Berechtigung an der Ausbildung gedeihen, so oder ähnlich aufgeschnappt: «Wer Niveau B2 nach dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen (GER) in Deutsch nicht erreicht, ist chancenlos bezüglich Abschlusserfolg», «Wer die sieben Bundesräte nicht kennt, gehört nicht an die Abschlussprüfung». Für solche Normvorgaben kann man gerne auch mal das eigene Denken durchforsten, wer wird ehrlicherweise nicht fündig? Man verstehe mich nicht falsch, Sprachkompetenz auf Niveau B2, staatskundliches Grundwissen und noch vieles mehr sind durchaus nützliche Dinge, aber sind es auch notwendige Bedingungen für den Ausbildungserfolg? Müssen alle da durch? Mit welchem Aufwand müssen Normabweicher ihren «Rückstand» verringern, und was verpassen sie in dieser Aufholzeit? Oder umgekehrt gefragt: Weshalb können schwere Legastheniker Unternehmen führen und Spitzenpolitik betreiben?
Konzepte gegen Lernhemmnisse
Wer schnödend in Kochtöpfen stochert, in denen überlieferte Gerichte zubereitet werden, sollte dafür einen Grund anführen können. Ich versuche mich zu erklären. Vorausschicken möchte ich, dass ich nicht alles, was in diesen Töpfen traditionellerweise gekocht wird, für ungeniessbar halte. Möglicherweise sind die Gerichte sogar für einen namhaften Teil der Speisenden bekömmlich oder doch zumindest ohne unerwünschte Nebenwirkung. Der Grund liegt im Fokus auf die sogenannt schwächeren Lernenden, deren «Lernschwächen» weder als Persönlichkeitsmerkmal noch als Folge eines bestimmten Sozialstatus zu werten sind, sondern primär darin liegen, dass für sie viele der bisher aus der Bildungsküche servierten Gerichte nicht zuträglich waren.
Pädagogische Lernförderung
Das Rezept, um Förderfallen zu umgehen, liegt in der förderpädagogischen Kernforderung: Ressourcen fördern statt Defizite bearbeiten. So verbreitet diese Forderung ist, so selten findet man eine konsequent umgesetzte Praxis in unseren Berufsfachschulen. In den Diagnose-Förder-Karussellen hat die Ressourcenförderung jedenfalls keinen Platz. Wohl gerade, weil sie so einleuchtend, so unbestritten und tausendfach wiederholt ist, verkommt die Proklamation vom Primat der Ressourcenförderung zur hohlen Phrase, dient oft nur noch als Köder in den Fallen der Früherfasser. Bekanntlich hat ein Köder keine Bedeutung mehr, sobald die Falle zugeschnappt ist. Nachdem die Diagnose gemacht ist, folgen dem Bekenntnis zur Ressourcenförderung in den meisten Fällen keine entsprechenden Taten. Nicht aus bösem Willen, sondern weil die bereitgestellten Verfahren und Instrumente in aller Regel als Reparaturset für die Mängelbehebung konzipiert sind: Man kennt den Mangel, hat Angebote in Form von Förderkursen zu dessen Behebung und schliesst kurz, dass jeder und jede am Ende eines standardisierten Förderkurses sein oder ihr individuelles Defizit behoben habe. Solche impliziten, einzig auf der Defiziterfassung abgestützten Lernprognosen haben ein paar zentrale Wirkungszusammenhänge ausser Acht gelassen: Die Diagnosen müssten nicht nur sehr sorgfältig konstruiert und adressatengerecht dosiert eingesetzt werden, sie sollten auch eingebettet sein in ein System, das individuelle Lernbedürfnisse erhebt, individuelle Lernwege zulässt und sich an Sinn- und Zielfragen der Lernenden ausrichtet. Andernfalls sind unerwünschte Nebenwirkungen bis hin zur Wirkungslosigkeit zu erwarten.
Führen wir uns Typ D vor Augen, bei dem schon x-fach das Ungenügen aufgedeckt wurde, der Glaube an Selbstwirksamkeit und Lernerfolg aufs Kleinstmass geschrumpft ist. Es bieten sich grundsätzlich zwei Ansatzpunkte an. Wenig erfolgversprechend sind die Konfrontation mit dem eigenen Ungenügen und der anschliessende Wink mit einem passenden Förderangebot, unbesehen, ob dieser Wink als Lockruf oder als Ultimatum daherkommt. Der bessere Ansatzpunkt heisst: Ressourcen fördern statt Defizite bearbeiten. Typ D benötigt Erfolgserlebnisse, Erfahrungen von erlebter Selbstwirksamkeit und Gehör für seine Lern- und Entwicklungsbedürfnisse. Dabei ist kaum zu erwarten, dass solche Bedürfnisse den Lernenden des Typs D auf die Stirn geschrieben oder ausformuliert abrufbar seien, es braucht eine gemeinsame Suche, manchmal auch Geduld und Zeit, bis sie stimmig vorliegen. Ein personalisierter Lern- oder Entwicklungsplan, ausschliesslich für D gültig und von D vollumfänglich verstanden und akzeptiert, ist die Grundlage für kleine Schritte auf dem eigenen Lernweg, auf dem jedes erreichte Etappenziel ein Erfolgserlebnis ist.
Wenn das simple Rezept heisst: Ressourcen fördern statt Defizite bearbeiten, dann sind die Ingredienzien dazu: ein positiver Erhebungskontext, individuelle Stärken, persönliche Ressourcen, personalisierte und einvernehmliche Förderplanung.
•Positiver Erhebungskontext: Ressourcen und Lücken erfasst man sinnvollerweise in einem positiv besetzten Kontext. Anstelle von Erhebungsinstrumenten, die fast zwangsläufig mit Testgeruch und der Gefahr des Scheiterns behaftet sind, bieten sich pädagogische Beobachtungen im Rahmen von «lustvollen» (man verzeihe die Übertreibung) Lernprozessen an. Für eine «Lernstanderhebung Deutsch» eignet sich zum Beispiel ein Text am ersten Schultag, in dem die Lernenden ihre Erwartungen und Interessen formulieren, die mündliche oder schriftliche Auswertung eines Interviews mit der betrieblichen Berufsbildnerin oder zu Papier gebrachte Zukunftsvisionen.
•Individuelle Erfolgsfaktoren sichtbar machen: Von persönlichen Erfolgen ausgehen ist ein probater Weg, um individuelle Stärken zu erkennen. Zum Beispiel die Suche nach dem Wie, dem Wann und dem Warum im Anschluss an Fragen der folgenden Art: Wo habe ich mich durchgesetzt? Weshalb habe ich die Lehrstelle bekommen? Woran erinnere ich mich gerne aus der Schulzeit (oder aus anderen Lebenskontexten)? Daraus liesse sich dann ein Stärkeprofil zeichnen, ein Ressourcenfundament, das im weiteren Schulverlauf immer mal wieder konsultiert werden kann.
•Persönliche Ressourcen anzapfen: Was nützen Stärken, wenn sie brachliegen, wozu Ressourcen kennen, wenn sie hintanstehen müssen? Für die Förderplanung sollte man postulieren: An der Bearbeitung eines jeden «defizitären» Förderelements sollten mindestens zwei individuelle