Strukturelle Lernbehinderungen
Einige der mannigfaltigen strukturellen Lernbehinderungen, von der Absenzenregelung bis zur Zimmerbestuhlung, sind im Text von Jürgmeier ausführlich beschrieben. Hier begnüge ich mich damit, auf deren Existenz hinzuweisen.
Diagnose-Förder-Karusselle
Das, was ich als Diagnose-Förder-Karussell bezeichne, ist ein ausgesprochen verbreitetes Phänomen, das an vielen Berufsfachschulen in Gang gesetzt wird, meistens zu Beginn einer Ausbildung, im Laufe des ersten Quartals. Landauf, landab werden Eintrittstests und Lernstandserhebungen durchgeführt. Mit unterschiedlichen Instrumenten, Marke Eigenbau oder eingekauft, werden Mathematik- und Sprachleistungen objektiv erhoben, mit Soll- und Durchschnittswerten verglichen, das Ganze manchmal gar auf dem Gebiet der Sozial- und Selbstkompetenzen. Solche Klassenscreenings finden in manchen Schulen oft flächendeckend statt. Sie zeigen in erster Linie Standardabweichungen Einzelner, machen zum Zeitpunkt X gemessene Rückstände in Bezug auf definierte Anforderungsstandards sichtbar, und im besten Fall geben sie einigen Lernenden auch Auskunft über ihre Reserven in Bezug auf die Minimalanforderungen.
Früherkennung ist ein häufig benützter Begriff für solche zum Standard gewordene Übungen, um allen Beteiligten die Notwendigkeit von Stütz- und Fördermassnahmen vor Augen zu führen, belegt mit Zahlen und Quoten. Der Zweck besteht darin, vom Besuch der nachgelagerten Angebote zu überzeugen (wen?), die unter ganz unterschiedlichen Titeln (Stützkurse, Förderkurse, Lernateliers …) angeboten werden und versprechen, die erkannten Defizite zu beheben. Nach den absolvierten zwanzig bis vierzig Lektionen entlässt das Karussell die Passagiere und wartet auf den Einsatz im Folgejahr. A prima vista scheint es sehr plausibel, Förderkursaufgebote an die Befunde von Diagnostikscreenings zu koppeln. Problematisch wird es dann, wenn solche Kernaussagen einschlägiger Publikationen isoliert rezipiert und verkürzt umgesetzt werden: «Die zentrale Frage für die Berufsbildenden an Berufsfachschulen in der Phase der Früherfassung lautet: Bringen die Lernenden die nötigen Voraussetzungen mit, um die schulischen Leistungsziele ... zu erreichen?» (Grassi et al., 2014, S. 47). Problematisch deshalb, weil es dazu führt, den Blick einseitig auf die Defizite zu richten, und in der Folge, analog zum Vorgehen der Schulmedizin, die vermeintlich probaten Gegenmittel verabreicht werden.
Diagnostik-Förder-Karusselle drehen alljährlich ihre Runden mit ungebrochenem Glauben ihrer Betreiber an die selbst zugeschriebene Wirkung. Bei dieser rituellen Mechanik ist kaum Platz für Fragen, dabei gäbe es ein paar ganz zentrale angesichts des betriebenen Aufwands, der notabene in den meisten Curricula weder inhaltlich noch mit der nötigen Zeitdotierung budgetiert ist:
•Ist die Wirkung der Förderprogramme nachgewiesen, wird sie auch mittel- und langfristig geprüft?
•Ist Lernmotivation durch Mahnfinger und Knüppel tatsächlich ein probates Mittel für Lernanstrengungen?
•Sind die Angebote optimal auf die erhobenen Mankos abgestimmt?
•Wie werden Erfolgserlebnisse sichergestellt, die anerkanntermassen wichtig sind für wirksame Lernprozesse?
•Weshalb werden nur Lernende mit ungenügenden Resultaten gefördert?
Wie berechtigt diese Fragen sind, zeigt das Resümee einer grossen Berufsfachschule, das sich auf eine mehrjährige Erfahrung bei den Elektroberufen stützt, einem der meistgewählten Berufsfelder industriell-gewerblicher Richtung. Es dürfte mit Sicherheit kein Sonderfall sein: Früherfasst wurden schulweit alle Lernenden im ersten Lehrjahr, dabei stellte man in rund 40 Prozent aller Fälle einen Förderbedarf fest, grossmehrheitlich in Mathematik. Rund 50 Lernende beziehungsweise 90 Prozent der «Förderbedürftigen» des betreffenden Berufs besuchten anschliessend Stützkurse aufgrund ihres Defizits. Erstaunlich dann das Resultat der Wirkungsmessung jeweils ein paar Wochen nach Stützkursende mit dem identischen Test wie in der Früherfassung: Es gibt keine oder nur sehr geringfügige Unterschiede im Vergleich zur Leistung beim Schuleintritt. Anzumerken ist, dass besagte Schule die Förderkurse auf vorbildliche Art durchführt: an zusätzlichen Schulhalbtagen, ergänzt mit nachgelagerten Kursblöcken samstagvormittags – besucht von rund 50 Prozent der Stützkursabsolvierenden (wegen noch unbefriedigender Lernerfolge). Zusätzlich laufen weitere Förderprogramme, wie die betreute Aufgabenhilfe von Montag bis Samstag. Nullwirkung schon kurze Zeit nach den Stützkursen! Dabei wird die eigentliche Wirkung, auf die solche Förderung implizit ausgerichtet ist, meines Wissens nirgends erfasst: Wie erfolgreich schliessen die Stützkursgeförderten ihre Ausbildung in den entsprechenden Fächern ab? Oder anders formuliert: Hat das Diagnose-Förder-Karussell seinen Anspruch, Defizite zu beheben, erfüllt, die Versprechen gegenüber den Lernenden eingelöst?
Diagnostikfalle
Die Köder in der Diagnostikfalle sind mit arithmetischer Genauigkeit nachgewiesene Defizite. Die Falle schnappt bei all jenen zu, denen ein wissenschaftlich errechnetes Ungenügen kein ausreichender Lernanreiz ist. Sei es, dass sie um ihre Defizite wissen und schon längst in der Spirale der negativen Attribuierung (vgl. J. Eigenmann in diesem Buch) gefangen sind; sei es, dass entweder ihr aktuelles Selbstbild oder die persönlichen Prioritäten keine genügende Motivationsgrundlage für die Defizitbehebung darstellen. Zugeschnappte Diagnostikfallen wie auch allzu grosse Soll-Abweichungen erzeugen unweigerlich hartnäckige Lernhemmungen.
Diagnostik per se der Fallenstellerei zu bezichtigen, wäre falsch. Es gibt Lernende, die bekannte und/oder aufgezeigte Lücken schliessen wollen, es gibt auch solche, für die ein externer Fingerzeig durchaus Lernprozesse in Gang setzen kann (vgl. Typ B). Diagnoseinstrumente sind ebenfalls geeignet, Potenziale und vorhandene Stärken sichtbar zu machen. Diagnostikverfechter preisen die mitgemeinte Ressourcenförderung denn auch oft und gerne an. Und dennoch münden in aller Regel Übungsanlagen mit der Bezeichnung «Früherfassung» oder ähnlich in eine Empfehlung zur Aufarbeitung der Defizite, die Vorlieben und besonderen Fähigkeiten bleiben aussen vor. Ich unterstelle, dass die meisten Diagnosen in Berufsfachschulen auf der Sekundarstufe II, unter welchem Titel auch immer, einer Denkfigur folgen, wonach zuerst die Defizite zu erkennen und zu beheben sind, bevor man vorhandene Ressourcen (Interessen und Fähigkeiten) entwickelt. Aussagen wie diese werden an mancher Berufsfachschule als Empfehlung gelesen, um unmittelbar zur Tat zu schreiten: «Am Ende der Früherfassung bekommen die Lernenden von den Berufsbildenden aller drei Lernorte eine differenzierte Rückmeldung. Im Fokus stehen dabei zunächst Lernende mit Unterstützungsbedarf oder schlechter Passung (Anforderung zu tief oder zu hoch) sowie Lernende, bei denen ein Abbruchrisiko besteht» (Grassi, 2014, S. 45). Das heisst, es werden Stützkursempfehlungen, -einladungen oder gar -aufgebote verfasst. Der wichtige Nachsatz im Text von Grassi wird dann oft und gerne überlesen: «In solchen Situationen treffen sich alle Beteiligten an einem runden Tisch, analysieren die Lage und entscheiden im Einvernehmen über das weitere Vorgehen.» Diese Defizit-zuerst-Denkfigur ist auch gesetzlich untermauert: Freifachbesuch setzt genügenden Notendurchschnitt voraus (BBV Art. 20, Abs. 3), was für all jene bedeutet, die auch nach der Stützkursdusche im Noten-Grenzbereich verbleiben, dass sie vom Freifachunterricht weitgehend ausgeschlossen sind – in Anbetracht der Bedeutung des Ressourcenbegriffs eine Absurdität. Die Ressource, die Quelle, nährt den Fluss, das gilt gleichermassen für den Lernfluss. Ressourcen bilden den Ausgangspunkt von Entwicklungen und müssen deshalb auch im Zentrum aller Lehrbemühungen stehen.
Stützkursfalle
Wer die Diagnostikfalle mit einem Manko-Etikett verlässt, läuft Gefahr, in der Stützkursfalle zu landen. Man muss nicht so weit gehen, dem