Für viele mag das auch eine Entlastung sein, denn es bedeutet im Umkehrschluss, dass es auch nicht nötig ist, alles zu wissen. Wir müssen nicht alle kulturellen Ausprägungen im Detail kennen und über die diversen Lebensweisen genauestens informiert sein. Solches Wissen ist zwar spannend, aber es ist erst dann wirklich hilfreich, wenn es mit dem Wissen um das eigene Nichtwissen ergänzt wird. Auf diese Weise kann die Gefahr gemindert werden, das Gegenüber mit vermeintlichem Wissen zu vereinnahmen, und es kann ermöglicht werden, trotz aller Konzepte und Vorstellungen wirklich zuzuhören, wahrzunehmen und allenfalls nachzufragen (vgl. auch Mecheril, 2008; Kalpaka & Mecheril, 2010, S. 97).
«Zuhören ist sehr viel schwieriger, als gemeinhin angenommen wird; wirkliches Zuhören bedeutet, uns selbst völlig loszulassen, alle Informationen, Konzepte, Vorstellungen und Vorurteile fallenzulassen, mit denen unsere Köpfe so vollgestopft sind.» (Sogyal Rinpoche)
«Eines meiner Kindergartenkinder erzählt mir eines Tages mit Stolz, dass sie nun in die Koranschule gehe und dabei ein Kopftuch trage, sie lerne jetzt nämlich den Koran. Ich ertappe mich dabei, dass ich auf das Stichwort ‹Koranschule› irritiert reagiere und damit viele Befürchtungen für die Entwicklung des Mädchens verbinde. Um diesen Gedanken und Gefühlen – die von meinen eigenen Vorstellungen und Bildern geprägt sind – nicht zu viel Raum zu geben, frage ich beim Mädchen interessiert nach, was sie in der Koranschule alles lerne. Dabei entstand ein schönes Gespräch, in dem ich einigen Einblick in eine Welt erhielt, die ich eigentlich kaum kenne.» (Zitat aus der Projektgruppe)
«Nachdem ich viele Gespräche mit Eltern aus Serbien als schwierig erlebt hatte, wollte ich mehr über die Menschen aus dieser Gegend erfahren. Ich organisierte deshalb, dass ich meine Intensivweiterbildung in Serbien und Kroatien verbringen konnte. Diese Monate voller neuer Eindrücke und Begegnungen bewirkten, dass ich die Gespräche seither viel gelassener angehen kann.» (Zitat aus der Projektgruppe)
Andere Perspektiven erwägen
Auf der Basis einer solchen Offenheit ist es ausserdem hilfreich, andere Perspektiven in Betracht zu ziehen. Es kann verblüffend sein, wie anders eine Situation aussieht, wenn sie aus der Sicht des Gegenübers betrachtet wird. Allerdings ist es oft nicht ganz einfach, sich Sichtweisen vorzustellen, die von der eigenen abweichen, und deshalb besonders hilfreich, sich darüber mit Kolleginnen und Kollegen auszutauschen. Und am hilfreichsten ist natürlich das direkte Nachfragen, sofern das möglich und passend ist.
Kölsch-Bunzen, Morys und Knoblauch (2015) erzählen dazu eine erhellende Geschichte: Eine Mutter holt ihren Sohn jeweils abends von einer Kindertagesstätte ab. Die Fachkraft beobachtet, dass der Junge sich dabei auf die Garderobenbank setzt und seiner Mutter die Schuhe zum Zubinden entgegenstreckt, woraufhin sich die Mutter vor ihn auf den Boden kniet und ihm die Schuhe bindet. Die Fachkraft schüttelt innerlich den Kopf, da sie weiss, dass der Junge auch selbst in der Lage ist, seine Schuhe zu binden, und es nicht richtig findet, dass er sich von seiner Mutter bedienen lässt. Spontan vermutet sie darin ein männlich-dominantes Verhalten, das von der Mutter auch noch gefördert wird. Die Fachkraft sucht daraufhin das Teamgespräch, und dabei wird ihr bewusst, wie viele Annahmen in ihre Vermutungen eingeflossen sind, über die sie im Grunde wenig weiss: Handelt es sich um ein Verhalten, das immer auftritt oder nur in bestimmten Situationen? Handelt es sich dabei um ein «Bedienen» oder möchte die Mutter ihre Fürsorge ausdrücken? Möchte sich der Sohn bedienen lassen, oder möchte er seine Verbundenheit mit der Mutter zeigen? Spielt es zur Erklärung dieser Situation eine Rolle, dass die Mutter in der Türkei aufgewachsen ist? Im Verlauf dieses kollegialen Austauschs wird bei der Fachkraft aus dem innerlichen Kopfschütteln allmählich Neugier und Offenheit, sodass sie beschliesst, bei nächster Gelegenheit das Gespräch mit der Mutter zu suchen. Die Mutter erzählt ihr, dass sie einer Vollzeitarbeit nachgeht, ihren Sohn deshalb abends erst spät abholen kann und ihm dabei von Anfang an zeigen möchte, dass sie ihn liebt und gern für ihn sorgt. Gleichzeitig sei ihr die Selbstständigkeit ihres Sohnes wichtig, er habe deshalb bereits gelernt, die Schuhe selbst zu binden. Das Verhalten ihres Sohns deutet sie so, dass er sich in der abendlichen Abholsituation gerne auf das «Begrüssungsspiel» einlasse (ebd., S. 35).
Das Verhalten der Fachkraft ist dabei beispielhaft: Sie nimmt ihre eigene Irritation wahr, tauscht sich mit ihrem Team darüber aus, reflektiert ihre eingeflossenen Annahmen, wandelt sie in Fragen um und öffnet sich schliesslich dafür, der Erklärung der Mutter zuzuhören und dieser anderen Perspektive Raum zu geben.
«Aus der Sicht des Anderen kann eine Situation manchmal dramatisch anders aussehen.» (Zitat aus der Projektgruppe)
Differenzieren
Eine weitere nützliche Strategie ist das bewusste Ausdifferenzieren der Wahrnehmung. Auch dazu eine kleine Geschichte: Eine Lehrperson hat vor, mit ihren Schülerinnen und Schülern aus einer Klasse im 2. Zyklus ein Theater einzuüben und aufzuführen. In diesem Theaterstück gibt es eine Rolle, bei der ein Kind mit schwarzen Haaren davon erzählt, wie es mit seinen Eltern und seinen Brüdern aus der Türkei in die Schweiz migriert ist. Als die Klasse von dieser Rolle erfährt, zeigen einige gleich auf Oeznur und schlagen vor, dass sie die Rolle spielen solle, da sie die einzige mit schwarzen Haaren und ausserdem Türkin sei. Oeznur reagiert auf diesen Vorschlag mit grosser Zurückhaltung. Nach der Schule tauscht sich die Lehrperson mit ihrer Stellenpartnerin aus. Gemeinsam überlegen sie, inwiefern diese Idee, Oeznur als «Türkin» zu bezeichnen, wirklich angemessen ist. Sie denken, dass sich Oeznur nicht einfach nur als «Türkin» sieht. Soweit sie wissen, hat sie zwar emotionale Bezüge zu ihrer Verwandtschaft in der Türkei, gleichzeitig aber ebenso bedeutsame Zugehörigkeitsgefühle innerhalb der Schweiz. Ausserdem ist sie in den letzten Jahren zu einer leidenschaftlichen Pfadfinderin geworden und hat dort bestimmt eine wichtige Bezugsgruppe. Zeitweise steht auch ihr Heranreifen zu einer Frau im Mittelpunkt, und sie identifiziert sich vor allem mit ihren Freundinnen. Im Vergleich zu ihren Freundinnen hat Oeznur aber weniger Handlungsspielraum, was die finanziellen Möglichkeiten betrifft, denn es gab Zeiten der Arbeitslosigkeit in der Familie, und was ihre Eltern verdienen konnten, haben sie zum Teil an ihre Verwandtschaft in der Türkei gesendet. Oeznur träumt davon, einmal genügend zu verdienen, London zu besuchen und dort vielleicht auch einmal zu arbeiten. Oder in Istanbul. Etwa einmal im Jahr reist die Familie auf Verwandtschaftsbesuch in die Türkei, und Oeznur hat wohl besonders gute Beziehungen zu ihren Grosseltern mütterlicherseits. Insgesamt spielen die Türkeibezüge vermutlich eine Rolle in Oeznurs Leben, sind aber bestimmt bei Weitem nicht so dominant, wie ihr oft zugeschrieben wird, wenn sie «Türkin» genannt wird. Eine der Lehrpersonen erinnert sich zudem daran, dass Oeznur einmal enttäuscht gesagt habe: In der Türkei bin ich immer einfach «die Schweizerin» und in der Schweiz bin ich immer einfach «die Türkin». Im Verlauf dieses Gesprächs wird den beiden Lehrpersonen klar, dass die Rolle der «Türkin» für Oeznur nicht automatisch attraktiv, vielleicht sogar mit einem bitteren Beigeschmack verbunden ist, weil sie auf Türkeibezüge reduziert wird und diese im Theater dann auch noch zur Schau stellen soll. Die beiden Lehrpersonen beschliessen deshalb, die Rollenverteilung noch einmal zu überdenken und dabei Oeznur stärker zu Wort kommen zu lassen. Und die Frage der schwarzen Haare liesse sich ja auch noch mit Theaterrequisiten wie Perücken und Hüten lösen.
Unsere gesellschaftlich gängigen Stereotypen leiten uns häufig in allzu vereinfachte Vorstellungen nationaler, ethnischer oder kultureller Zugehörigkeit und Prägung. Das Ausdifferenzieren ermöglicht dann ein Bild, das gewissermassen in der Anzahl seiner Pixel zunimmt, dadurch facettenreicher wird und schliesslich dazu verhilft, eine Situation besser einschätzen zu können.
Sich selbst erkennen
Neben dem offenen und differenzierten Blick auf das Gegenüber und dem Versuch eines Perspektivenwechsels ist es auch hilfreich, den Blick zurückzulenken auf sich selbst. Wir sind Teil sozialer Strukturen, in denen manche mehr, andere weniger Handlungsspielraum