Dieses Buch ist ihnen allen gewidmet. Wir möchten ermutigen und unterstützen, wo Herausforderungen entstehen; und bestätigen, wo Ansätze gelingen und ausgebaut werden können. Auch wollen wir zum kritischen Überdenken von Routinen anregen und zum Erweitern von Handlungsoptionen beitragen, indem wir Fälle aus dem Schulalltag diskutieren, sie mit Hintergrundinformationen durchleuchten, bewährte Ideen einbringen und dazu einladen, diese Ideen kreativ zu nutzen und sie im komplex strukturierten Schulalltag anzupassen und weiterzuentwickeln. Zu diesem Zweck haben wir zudem im letzten Kapitel eine Sammlung hilfreicher Literaturhinweise, Links und Angaben zu Unterrichtsmaterialien zusammengestellt.
Es ist nicht erforderlich, das Buch am Stück zu lesen, es kann auch einfach an denjenigen Stellen aufgeschlagen werden, die persönlich bedeutsam sind und zu denen Anknüpfungspunkte bestehen. Das Buch soll ein Alltagsbegleiter sein, der zu Rate gezogen werden kann, wo er gerade gebraucht wird und nützlich erscheint.
TEIL 1
ORIENTIERUNGSRAHMEN
1.1 Anerkennung für alle
Zunächst stellt sich die grundsätzliche Frage, wie das pädagogische Handeln im Migrationskontext verstanden werden kann und mit welchen Grundanliegen es verbunden ist. Im Anschluss daran möchten wir aufzeigen, welche Überlegungen helfen können, um diesen Anliegen immer besser gerecht zu werden.
Der Lehrplan 21 hält fest, dass die Schule am grundlegenden Wert der Chancengleichheit orientiert sein soll (D-EDK, 2016, S. 21) und dass allen Schülerinnen und Schülern ermöglicht werden soll, ihr Potenzial bestmöglich zu entfalten (D-EDK, 2016, S. 42). Wenn es also um Chancengleichheit und Potenzialentfaltung geht, wird die Frage der Anerkennung zu einer entscheidenden Grösse. Nur auf der Grundlage der Anerkennung gleicher Rechte können gleiche Bildungschancen gewährleistet werden, und die Anerkennung der einzelnen Personen bildet die Basis für jegliche Form individueller Entfaltung (Honneth, 2014 [1994]).
Anerkennung ist damit nicht nur zu einem «Schlüsselbegriff unserer Zeit» geworden (Fraser & Honneth, 2003), sondern stellt auch für den Bildungskontext einen Dreh- und Angelpunkt dar (Helsper et al., 2001), ganz besonders dann, wenn durch Wanderungsbewegungen neue soziale Differenzierungen entstehen, Identitäten und Zugehörigkeitsgefühle mitunter brüchig, fragil und verletzlich sind und deshalb das Anerkennen vermehrter Aufmerksamkeit bedarf (Micus-Loos, 2012, S. 303).
Im Folgenden beziehen wir uns auf die Anerkennungstheorie von Axel Honneth und im Besonderen auf die Auslegungen für pädagogische Zusammenhänge durch Werner Helsper und Angelika Lingkost (2002, vgl. auch Helsper et al., 2001). Sie unterscheiden drei Formen von Anerkennung, die für das Handeln von Lehrpersonen – insbesondere im Migrationskontext – von fundamentaler Bedeutung sind: die «emotionale Anerkennung», die «moralische Anerkennung» und die «Anerkennung der Person».
Emotionale Anerkennung: Arbeitsbündnis auf Vertrauensbasis
Diese erste Form der Anerkennung, die emotionale Anerkennung und «Liebe» (Honneth, 2014 [1994]), S. 153 f.), wird idealerweise vor allem in den familiären Primärbeziehungen, also in einer Form von Eltern-Kind-Beziehung verwirklicht, hat aber auch im pädagogischen Handeln grosse Bedeutung: Ein funktionierendes Arbeitsbündnis zwischen Lehrperson und Schülerin oder Schüler kann sich am besten entwickeln, wenn es auf der Basis gegenseitigen Vertrauens steht. Diese Basis bildet gewissermassen den Boden für schulisches Lernen. Lehrpersonen können massgeblich zu einem solchen Vertrauensverhältnis beitragen, indem sie den Schülerinnen und Schülern mit einer «positiven, freundlichen und offenen Haltung» (Helsper & Lingkost, 2002, S. 133) begegnen.
Entsprechend wird auch im Lehrplan 21 die Bedeutung der Lehrperson und ihrer Beziehung zum Kind betont:
Auch in einem Unterricht, der sich am Erwerb von fachlichen und überfachlichen Kompetenzen orientiert, sind die Lehrpersonen absolut zentral. Sie gestalten zum einen fachlich gehaltvolle und methodisch vielfältige Lernumgebungen und Unterrichtseinheiten; zum anderen führen sie die Klasse und unterstützen die Schülerinnen und Schüler pädagogisch und fachdidaktisch in ihrem Lernen. Lehrerinnen und Lehrer stellen durch sensible Führung und möglichst individuell gerichtete Lernunterstützung sicher, dass möglichst alle Schülerinnen und Schüler ihren Voraussetzungen und Möglichkeiten entsprechend Kompetenzen aufbauen können. Dabei ist eine Beziehung zwischen Lehrperson und Kind, die auf persönlicher Zuwendung, gegenseitigem Respekt und Vertrauen basiert, grundlegend (D-EDK, 2016, S. 29; Kursive d. d. Verf.).
Anerkennung in der Gleichheit: Alle haben gleiche Rechte
Bei der zweiten Form der Anerkennung – der «moralischen Anerkennung» – geht es um Anerkennung in der Gleichheit. Alle Schülerinnen und Schüler sind gleich im Sinn gleichberechtigter Ansprüche auf Bildungschancen, unabhängig von Faktoren wie sozialer, ethnischer, nationaler Herkunft, Glaubensüberzeugung oder Geschlecht (Helsper & Lingkost, 2002, S. 133 f.; Helsper et al., 2001, S. 32 f.).
Der Lehrplan 21 bezieht sich bei dieser Frage auf die Grundrechte, wie sie in der Bundesverfassung und in den kantonalen Volksschulgesetzen formuliert sind, und erklärt unter anderem folgende Aspekte zu Orientierungswerten der Schule: «Sie fördert die Chancengleichheit» und «Sie wendet sich gegen alle Formen der Diskriminierung» (D-EDK, 2016, S. 20).
Bislang konnte diese angestrebte Chancengleichheit und Nichtdiskriminierung in den Schweizer Schulsystemen nicht vollständig verwirklicht werden. Immer wieder zeigen Forschungen, dass einzelne soziale Gruppen in ihren Bildungschancen benachteiligt werden. In den letzten Jahren waren dies vor allem Schülerinnen und Schüler mit Migrationsgeschichte und tiefem sozioökonomischem Status (vgl. SKBF, 2014; 2018).
Diese ungleiche Verteilung von Bildungschancen hat viele Ursachen. Eine davon ist die Gestaltung der schweizerischen Bildungssysteme. Diese Systeme enthalten mit ihren Gruppeneinteilungen und Selektionskriterien versteckte Normalitätsvorstellungen, sodass diejenigen, die diesen Vorstellungen nahekommen, bevorzugt werden, während diejenigen, die sich davon weiter weg befinden, Benachteiligungen erfahren. Zum Beispiel besteht vielerorts die Erwartung, Eltern könnten ihre Kinder bei den Hausaufgaben unterstützen, was gewöhnlich Ober- und Mittelschichtsangehörige mit nur einem arbeitenden Elternteil und deutscher Familiensprache tendenziell bevorzugt (Dirim & Mecheril, 2010, S. 127 f.; Gomolla, 2011, S. 188). Aber auch das System der Jahrgangsklassen, die relativ späte Einschulung und die frühe und häufige Selektion in unterschiedlich anspruchsvolle weiterführende Schultypen sowie das Nichtbeachten von Mehrsprachigkeit sind Faktoren, an denen Normalitätsvorstellungen und Normalisierungstendenzen deutlich werden (Leiprecht & Lutz, 2015; Schader, 2012, S. 21; siehe auch Hintergrundinformationen, «Chancengerechtigkeit: Anspruch, Wirklichkeit und Handlungsmöglichkeiten»).
Würden angesichts dieser Systemlogik alle genau gleich behandelt, würden diejenigen begünstigt, die diesen inhärenten Normalitätsvorstellungen am meisten entsprechen. Gleiche Behandlung führt daher nicht zu gleichen Chancen, vielmehr ist ungleiche Behandlung erforderlich, um die unterschiedlichen Voraussetzungen und die unterschiedlichen Passungen mit den schulischen Normalitätserwartungen berücksichtigen zu können (Dirim & Mecheril, 2010, S. 128 f.; Helsper & Lingkost, 2002, S. 134). Für Lehrpersonen gehören diese Überlegungen zum Alltag. Immer wieder wird ausgelotet, wie sie den unterschiedlichen Voraussetzungen einzelner Schülerinnen und Schüler begegnen und dabei auch Benachteiligungen ausgleichen können, um alle bestmöglich in ihrem Lernen zu fördern.
Untersuchungen haben allerdings gezeigt, dass in diesen Bemühungen immer wieder nach einem bestimmten Muster gehandelt und entschieden wird: In der Tendenz werden Kinder mit Migrationsgeschichte eher als