Der zweite Blick bietet die Chance, dieses Weltbild zu überdenken, noch einmal genauer hinzusehen und zu neuen, auch kreativen und mitunter überraschend einfachen und entspannten Handlungsoptionen zu gelangen. Das Weltbild, das sich hier als überaus hilfreich erweist, ist eines, das von der Vielfalt als Normalität ausgeht: Wir sind vielfältig und das ist normal. Es hat mehr Platz für Vielfalt als wir oft denken.
Das heisst keineswegs, dass wir alles gutheissen müssen. Auch aus diesem Weltbild heraus gilt es, Normen und Regeln auszuhandeln (siehe Hintergrundinformationen, «Klassen- und Schulkultur der Anerkennung»). Allerdings bietet diese Sichtweise die weit bessere Ausgangslage, um dabei Zugehörigkeiten nicht infrage zu stellen und um in den Unterschiedlichkeiten auch die Gemeinsamkeiten wahrnehmen zu können. Über Unvertrautes kann gestaunt werden, ohne das Vertraute dabei abwerten zu müssen. Diese Grundhaltung, in der Verschiedenes in einer grundsätzlichen Gleichwertigkeit nebeneinander Platz hat, kann eine Klassen- und Schulkultur in einer Weise prägen, dass darin echte Anerkennung erfahren wird.
Auf den ersten Blick | Auf den zweiten Blick |
Grundhaltung / Weltbild | |
–Unterscheidung zwischen einem «Wir» und den «Anderen»–Tendenz zur Ausgrenzung und Abwertung der «Anderen» | –Alle gehören dazu |
Normalitätsvorstellungen | |
–Die «Wir»-Gruppe repräsentiert die «Normalität»–Die «Anderen» weichen von dieser «Normalität» ab | –Vielfalt ist die Normalität–Gemeinschaft braucht Regeln |
Tendenz zum Handeln nach … | |
–Gewohnheiten–gesellschaftlich gängigen Stereotypen–vermeintlichem Wissen | –kreativen Ansätzen–Sensibilität für Zugehörigkeitsfragen–Wissen um die Begrenztheit des Wissens |
Auch Brügelmann (2001, zitiert in Friedli Deuter, 2014, S. 10) unterscheidet zwischen diesen beiden Weltbildern und bildet dabei eine interessante Gegenüberstellung: Wenn wir von einer Norm ausgehen, von einem normativen Denken und Empfinden,
–bedeutet Heterogenität «Abweichung» von einer Norm,
–bedeutet Integration Einbeziehung des «Andersartigen»,
–bedeutet Differenzierung «Spezialbehandlung» gegenüber der Normgruppe.
Verstehen wir unter «Normalität» aber, dass jeder Mensch einzigartig ist, dass die Vielfalt die Norm ist,
–bedeutet Heterogenität schlicht «Unterschiedlichkeit»,
–bedeutet Integration «Gemeinsamkeit»,
–bedeutet Differenzierung Raum für die «Individualität».
Wenn wir dieser Perspektive, die von der Vielfalt als Norm ausgeht, vermehrte Beachtung schenken, kann sie zum Ausgangspunkt werden für das Abwägen von Handlungsoptionen.
Allerdings ist der Schulalltag oft hektisch, Entscheidungen müssen mitunter schnell gefällt werden, und oftmals besteht ein Handlungsdruck, bei dem wenig Zeit bleibt für besonnenes Betrachten und wohlüberlegtes Handeln. Stattdessen hat man häufig schon gehandelt, bevor man eine Chance hatte, die ganze Situation zu überblicken. Es ist einfach nicht immer möglich, auf Anhieb die angemessenste Handlungsoption zu finden. Auch im Nachhinein lohnt es sich aber, noch einmal über eine solche Situation nachzudenken, sich auch im Kollegium darüber auszutauschen und die weitere Planung an diesen Reflexionen auszurichten.
1.3 Entwicklungswege zur Professionalisierung
Welche Wege führen nun aber von einer Wahrnehmung «auf den ersten» zu einer Wahrnehmung «auf den zweiten Blick»? – Es gibt eine Reihe bewährter Strategien, die für pädagogisches Handeln im Allgemeinen erforderlich und für einen professionellen Umgang mit Vielfalt von ganz besonders grosser Bedeutung sind: Ungewissheit aushalten und zulassen zu können, andere Perspektiven zu erwägen, ein differenziertes Bild zu entwickeln, sich auch selbst zu erkennen sowie Belastungen ernst zu nehmen und als Team gemeinsam unterwegs zu sein.
Ungewissheit zulassen
Wir bringen diesen Aspekt gleich an erster Stelle ein, da er häufig unterschätzt wird: Wenn wir Situationen begegnen, die uns unvertraut erscheinen, dann reagieren wir gewöhnlich damit, dass wir das Wissen, das wir haben, anwenden und so die Lücke des Unvertrauten mit diesem Wissen zu füllen versuchen. Bei diesem Wissen handelt es sich um Bilder und Vorstellungen, die wir uns im Verlauf unserer Geschichte aufgebaut haben und die uns ein Stück Orientierung geben, wenn wir einer neuen Situation begegnen und uns unsicher fühlen. Manchmal sind diese Bilder allerdings gar nicht so hilfreich, denn manchmal meinen wir so viel über andere zu wissen, dass für unser Gegenüber kaum Raum bleibt, sich selbst zu artikulieren und auf diese Weise wirklich kennengelernt und verstanden zu werden.
Michael Ende (1960) hat dieses Phänomen mit seiner Figur des «Riesen Tur Tur» feinfühlig illustriert: Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer reisen durch eine Wüste, und auf einmal taucht am Horizont eine riesenhafte Gestalt auf. Jim Knopf geht davon aus, dass etwas so Riesenhaftes fremd und bedrohlich sein müsse und möchte sich so schnell wie möglich aus dem Staub machen. Aber dann halten sie doch noch einen Moment inne, lauschen und wagen einige Schritte in Richtung des Riesen, worauf auch der Riese beginnt, sich in ihre Richtung zu bewegen. Sie gehen sich Schritt um Schritt entgegen, und nun geschieht das Erstaunliche, denn mit jedem Schritt wird der Riese kleiner und kleiner und verliert damit auch seine vermeintliche Bedrohlichkeit, bis sie sich schliesslich in gleicher Grösse gegenüberstehen und sich in ganz anderer Weise begegnen und kennenlernen können. Das «Fremde» und «Ferne» erscheint uns oft grösser und bedrohlicher, als es in Wirklichkeit ist.
Wer kennt sie nicht, diese Momente, in denen man allerlei über andere denkt und vermutet, was sich dann als Fehlinterpretation herausstellt. Vermeintliches Wissen und vorschnelle Bewertungen können uns den Blick versperren und das eigentliche Sehen, Zuhören und Kennenlernen verhindern (vgl. auch die witzige Episode im Kurzfilm «The Cookie Thief» auf der DVD «Respekt statt Rassismus», Hinweis dazu in Kapitel 3.2 unter «Filme»).
«Wenn die Studierenden in der Vorlesung ihren Kaffee ausgeleert haben, dann haben sie mich immer nach einem Putzlappen gefragt. Aber eigentlich war ich als Doktorand an der Uni.» (Patrick Ngowi, aufgewachsen in Tansania. Und ja: Er hat eine dunkle Hautfarbe)
«Mein Mann wird häufig gefragt, warum er mich so schlecht behandle. Nur weil ich ein Kopftuch trage, denken alle, ich werde von meinem Mann unterdrückt. Und manche reden ganz laut und langsam und auf Hochdeutsch mit mir, obwohl sie ja hören, dass ich ganz normal Schweizerdeutsch rede und auch nicht schwerhörig bin. Ich weiss nicht, was sie sich denken.» (Salima Hamoudi)
«Die Leute haben immer gemeint, ich könne kaum lesen und schreiben, weil ich aus Kroatien komme. Dabei haben wir in der Schule Kant, Pestalozzi und Schiller gelesen. Aber das konnte sich hier niemand vorstellen. Die Leute meinen, wenn du vom Balkan kommst, dann bist du ungebildet.» (Ivana Marić Kovačević, als Jugendliche aus Kroatien in die Schweiz geflüchtet)
«Nur weil ich einen griechischen Namen habe, werde ich dauernd gefragt, warum ich so gut Deutsch könne. Das ist schon seltsam, denn ich bin ja in der Schweiz aufgewachsen.» (Alexis Fotakis)
Es lässt sich nicht ganz vermeiden, dass wir immer wieder falsch liegen mit unseren Ideen und Urteilen über andere. Allerdings