»Was machen wir hier?«, schreie ich. Meine Mutter greift nach meiner Hand, hält sie fest, als wollte sie einen möglichen Fluchtversuch unterbinden.
»Du musst ein paar Tage mit Cortison behandelt werden. Währenddessen werden weitere Untersuchungen durchgeführt, damit sie mit Sicherheit sagen können, woran du leidest.«
»… leidest.« Ich will das Wort nicht hören. Seine Buchstaben hämmern in meinen Kopf.
Wir treten durch ein Glastor. Unsere Schritte hallen. Meine Mutter scheint mit jedem Meter zu schrumpfen. Mir fällt ein, dass sie schon einmal hier war. Es liegt Jahre zurück, aber sie hat mir einmal davon erzählt, als wir beide noch nicht ahnen konnten, dass wir dieses Gebäude jemals gemeinsam betreten würden.
Die Cousine meiner Mutter ist in diesem Haus gegen Leukämie behandelt worden. Mit sechzehn Jahren ist sie in einem der Zimmer an der Krankheit gestorben. Als mir das einfällt, und ich zu wissen glaube, dass auch meine Mutter daran denkt, explodiert Hitze in mir wie eine Bombe. Ich habe das Gefühl niederzubrechen, aber meine Beine machen einfach weiter, als würden sie nicht zu mir gehören. Meine Mutter hält meine Hand, als würde sie sie nie mehr loslassen wollen.
Ich erinnere mich, wie meine Mutter mir von dem viel zu kleinen Gesicht ihrer Cousine erzählt hat, das mit dem Fortschreiten der Krankheit immer weiter zu schrumpfen schien, von ihren Oberschenkeln, die so dünn wie die Oberarme gesunder Kinder waren. Damals musste man das St. Anna Kinderspital durch eine Schleuse betreten. Darin wurde man von Kopf bis Fuß mit Desinfektionsmittel besprüht und musste danach Schutzkleidung überziehen, um keine Keime in das Innere des Krankenhauses zu tragen.
Zwar gibt es die Schleuse nicht mehr, aber der Weg durch das Glastor und die Eingangshalle kommt mir trotzdem vor wie ein Gang zum Schafott, und ich weiß, dass es meiner Mutter genauso gehen muss.
Wir stehen in der Eingangshalle. Ich blicke mich um, sehe kleine bunte Sessel. Gelb und rot. An den Wänden hängen Kinderzeichnungen. Es riecht nach Desinfektionsmittel und seltsam bitter. Ich betrachte meine Umgebung, als sähe ich sie durch eine Trennscheibe. Hinter den vordergründig fröhlichen Farben und den lustigen Bildern spüre ich entsetzliche Dunkelheit. Ich frage mich, wie viele Kinder in diesem Haus schon gestorben sind. Meine eigene Welt schrumpft auf dieses Krankenhaus zusammen.
»Muss ich jetzt sterben?«
Der Satz bricht aus mir heraus. In diesem Moment bin ich kein selbstbewusster Jugendlicher mehr, und schon gar kein Profisportler. Sondern ein kleiner Bub. Ein Kind, das Schutz bei seiner Mutter sucht, von der es weiß, dass sie doch immer alles heilen kann. Doch meine Mutter schweigt. Ich sehe, dass sie versucht, ihre Tränen zurückzuhalten. Es gelingt ihr nicht. Wir weinen beide. Weinen hemmungslos in der Eingangshalle stehend, bis eine Schwester kommt und uns zur Seite nimmt.
Günther
Diagnose Nierenkrebs 1976 im Alter von 3 Jahren
Auch Günther hat früher viel geweint. Die Bilder aus seiner frühesten Kindheit sind wie in Tränen gebadet. Er war zu klein, um zu verstehen, was mit ihm geschieht, aber Schmerz und Angst empfand er deshalb nicht weniger.
Heute wünscht sich Günther ein Auffangnetz. Einen Anker für die Zeit nach der Entlassung aus dem Spital. Menschen, die an Krebs erkrankten Kindern und ihren Eltern, den Geschwistern und anderen Betreuungspersonen für die Beantwortung offener Fragen zur Verfügung stehen, die raten und unterstützen können, vielleicht, um auch nur verständnisvoll zuzuhören oder zu trösten.
Inzwischen gibt es in Österreich eine solche Gruppe von Menschen – die Survivors – die als Kinder selbst von der Krankheit betroffen waren, nun gesund sind und sich für die Anliegen und Rechte der kleinen Krebspatienten einsetzen, sie im Spital besuchen, um ihnen Mut zuzusprechen und regelmäßige Treffen veranstalten, an denen diese nach ihrer Entlassung teilnehmen können. Günther gehört schon lange dazu.
Heute gibt es auch die Kinderkrebshilfe, in der ehemalige Patienteneltern die Väter und Mütter akut erkrankter Kinder unterstützen. Damals, als Günther mit drei Jahren an Nierenkrebs im Endstadium gelitten hat, ihm eine Niere entfernt werden musste, er monatelang Chemotherapie erhielt und bestrahlt wurde, schließlich mit einer offenen Operationswunde, die nicht verheilen wollte, aus dem Spital entlassen wird, gab es solche Organisationen noch nicht. Günthers Eltern sind ratlos, wie sie sich weiter verhalten sollen, wie ihr Kind, das schon im Sterben gelegen hat und für das mancher Arzt keine Chance mehr gesehen hat, nun auf die gesündeste Weise zu behandeln ist.
Sie entscheiden sich, ihren Sohn zu schonen, soweit es nur geht. Bis zum Schuleintritt kennt Günther weder Regeln noch Verbote. Er wird unter einen imaginären Glassturz gestellt, behütet und verwöhnt – wer kann es seinen Eltern verdenken? Auch sein Umfeld, die Kindergärtnerinnen und andere Betreuungspersonen, reagieren ähnlich, gibt es doch damals weder im Krankenhaus noch an anderer Stelle gut ausgebildete Mitarbeiter, an die man sich nach der Entlassung mit seinen Fragen, Ängsten und Befürchtungen wenden kann.
Statt ihnen Verständnis entgegenzubringen, rät ein Kassenarzt Günthers Eltern gar dazu, die Situation locker zu nehmen. Schließlich könnten die beiden es ja jederzeit mit einem neuen und gesunden Geschwisterchen für Günthers großen Bruder probieren.
Günther kann sich an die Zeit seiner Erkrankung nur noch schemenhaft erinnern. Einige Ereignisse sind ihm im Gedächtnis geblieben, vor allem aber die unermesslichen Schmerzen. Wie er diese damals hat überleben können, fragt er sich heute, wenn er zur Aufarbeitung seiner Krankheit versucht, sich noch einmal in die damalige Zeit hineinzuversetzen.
Die Erfahrungen, die Günther durch die fehlende Nachsorge gemacht hat, prägen sein Leben. Durch das regellose Aufwachsen und die Überbehütung ist es ihm schwergefallen, sich einzufügen, wo Anpassung gefordert war. So ist er schon in der Volksschule ein Schüler, der sich gegen unliebsame Aufträge sträubt, nicht verstehen will, warum er zurechtgewiesen wird, wenn er doch nur tut, was ihm Spaß bereitet. Später fliegt er wegen seines aufmüpfigen Verhaltens von der Schule.
Er ist ein Querdenker, einer, der den Mund nicht hält, wenn er findet, dass es etwas zu sagen gibt. So arbeitet Günther unermüdlich daran, die Nachsorge von Krebspatienten und deren Angehörigen in Österreich zu verbessern, prangert Missstände an, ist in Kontakt mit Organisationen im Ausland und immer auf der Suche nach Ideen. Er hatte die Idee, das Angebot der Survivors zu erweitern. Ehemalige an Krebs erkrankte Kinder sollen Eltern akut erkrankter im Spital für Gespräche zur Verfügung stehen, denn Günther weiß aufgrund seiner jahrelangen Krankenhausbesuche, dass sich diese solchen Kontakt dringend wünschen.
Obwohl es in Günthers Leben seit seiner Erkrankung im Kleinkindalter viele schwere Zeiten gegeben hat und es beinahe zwanzig Jahre dauern sollte, bis er mit ihrer Aufarbeitung beginnen hat können, möchte er mit niemandem tauschen. Schließlich haben all die schmerzhaften Erfahrungen ihn zu dem Menschen gemacht, der er heute ist, so sagt er.
Krankenhaus bedeutet Schmerz. Wenn Günther sich auch aus der Zeit seiner Krebserkrankung nicht mehr an vieles erinnern kann, so ist dieser Eindruck doch präsent. Unzählige Fingerstiche muss der kleine Bub während des Aufenthalts im Spital und bei Kontrollen über sich ergehen lassen. Wenn diese auch nicht so weh tun wie eine offene Operationswunde, so ist es doch ihre Regelmäßigkeit und die Gewissheit ihrer baldigen Wiederholung, die ihm Angst machen. Wie gestern kommt es Günther vor, wenn er sich daran erinnert, wie die Ärztin ihn darum bittet, ihr seine Hand zu reichen. Sie packt ein Instrument aus, das aussieht wie eine Rasierklinge mit einer Spitze an der Längsseite. Er sieht das Glänzen der Klinge, weiß, was nun gleich folgen wird. Er fühlt den festen Griff der Ärztin an seinem Handgelenk, aus dem er sich nicht mehr entwinden kann, und dann den tiefen Stich in seine Fingerkuppe. Der Schmerz rast seinen Arm hinauf, über die Schulter bis in den Kopf. Blut quillt und die Ärztin lächelt ihn an.
Wenigstens ist es immer dieselbe Frau Doktor, die ihn behandelt. Nach seiner Entlassung muss Günther regelmäßig Spritzen bekommen. Erinnern kann er sich nur, dass sie unangenehm, aber zu überstehen gewesen sind. Einmal jedoch sitzt er auf dem Krankenhausbett, die Tür öffnet sich und eine Fremde betritt den Raum. Wie »seine« Frau Doktor