Während einer Französisch-Schulstunde soll ich vor der Klasse in einem gespielten Dialog die Frage nach meiner Herkunft beantworten.
»Vous venez d’où?«, will die Lehrerin wissen. Ich forme die Lippen, um die Vokale und Konsonanten deutlicher aussprechen zu können, aber die Silben scheinen meinen Mund unkontrolliert zu verlassen, klingen wirr und genuschelt. Meine Mitschüler lachen und ich fühle, wie mir am ganzen Körper heiß wird. Die Lehrerin runzelt die Stirn und betrachtet mich mit zusammengekniffenen Augen. »Macht der sich über mich lustig?«, scheint sie zu denken.
Die Situation ist mir peinlich. Zuhause in Stockerau, in der Nähe von Wien, bin ich immer ein guter Schüler gewesen, habe, schon um Ruhe vor den Lehrern zu haben, immer die von mir geforderte Leistung erbracht. Auch deshalb, weil meiner Mutter, die eine ziemliche Perfektionistin ist, meine Noten so wichtig gewesen sind. Ich schiele in Richtung meiner Mitschüler. Der Blick einiger von ihnen ist mitleidig, die anderen grinsen, und ich spüre, dass mit mir etwas nicht in Ordnung ist. Rasch verdränge ich den Gedanken.
Am nächsten Tag findet ein Fußball-Trainingsmatch statt. Während der Spielpause stehe ich in der Umkleidekabine mit dem Rücken zum Trainer. Er kommt zu mir und packt mich überraschend hart an der Schulter. Sein Griff ist fest und seine Finger bohren sich zwischen meine Knochen. Erschrocken fahre ich herum.
»Was ist mit dir? Willst du mich ärgern?«, fährt er mich an. Seine Stimme klingt unfreundlich und gereizt und ich begreife, dass ich eine Aufforderung überhört haben muss.
»Es tut mir leid, ich habe sie vorher nicht verstanden«, entschuldige ich mich. Der Trainer runzelt die Stirn. Eine steile Falte hat sich zwischen seinen Augenbrauen gebildet und es sieht nicht aus, als würde er meiner Behauptung Glauben schenken.
»Was soll das heißen, du hast mich nicht verstanden?«, schnaubt er. »Ich bin keine fünf Meter von dir entfernt gewesen und habe den Satz dreimal laut und deutlich wiederholt!«
Wieder spüre ich, dass etwas nicht stimmt, versuche den Gedanken aber neuerlich zu verdrängen, indem ich mich auf die Taktik für die zweite Hälfte konzentriere. Während des Matches sprinte ich wie ein Gejagter über das Spielfeld. Auf diese Art beweise ich mir selbst, dass es mir gut geht und entgehe meinen Grübeleien für eine Dreiviertelstunde. Nur beim Sport fühle ich mich noch frei. Wenn ich laufe, den Ball spiele, den Körper an seine Grenzen treibe, die Kraft meiner Muskeln und die Lust an der Bewegung spüre, wenn der Schweiß über meine Haut rinnt und meine innere Hitze kühlt, nehme ich keinen Druck wahr. Dann ist alles im Fluss. Der Atem strömt ungehindert. Ich kann meine Lungenflügel bis in die Spitzen mit Luft füllen und meinen Brustkorb erweitern. Mein Kopf ist leicht.
Nach ein paar Tagen spricht mich mein Zimmerkollege Stefan auf meine verstopfte Nase an. Mein Schnarchen hält ihn in der Nacht vom Schlafen ab. Er drängt darauf, dass ich mich untersuchen lasse. Wir hätten schließlich unseren Sportarzt hier, meint er. Ich winke ab.
»Ist nur ein Schnupfen. Das wird schon«, sage ich und klinge zuversichtlicher, als ich bin. Er zuckt mit den Schultern.
In der Nacht schrecke ich aus dem Schlaf auf, als ein stumpfer Gegenstand gegen meinen Kopf prallt. Verwirrt reibe ich die schmerzende Stelle, blinzle in die Dunkelheit und erkenne meinen Zimmerkollegen, der sich ebenfalls aufgerichtet hat. Er hebt seine Hand, zielt mit einem Fußballschuh nach mir, wirft. Ich ducke mich, und der Schuh knallt hinter mir gegen die Wand. Wahllos greift Stefan nach dem Munitionsvorrat neben seinem Bett. Fußballschuhe, Hallenschuhe, Laufschuhe, Sneakers und Badeschlapfen fliegen wie Geschosse in meine Richtung. Ich schreie, dass er aufhören soll. Aber es ist mehr ein Krächzen.
»Wenn du dich nicht gegen das verdammte Schnarchen behandeln lässt!«, ruft er, und ich verspreche es.
Aber natürlich halte ich dieses Versprechen nicht. Von meinem Stiefvater sind Rico, Raffael und ich als »Indianer« aufgezogen worden. Indianer kennen bekanntlich keinen Schmerz. Eine einfache Erkältung ist kein Grund, zum Arzt zu gehen, es sei denn, man ist verweichlicht. So habe ich es gelernt.
Im Internat wird das nicht anders gesehen. Wir alle sind richtige Männer. Solange wir uns beim Fußballspielen nicht beeinträchtigt fühlen, sollen wir uns nicht beklagen. Nur wenn die sportliche Leistung abnimmt, werden die Trainer unruhig und versuchen uns die Schmerzen auszureden. So schlimm kann es doch nicht sein. Wir sollen die Zähne zusammenbeißen. Wir sind schließlich junge, fitte Spieler und keine lahmen Fußballopas, die wegen jeder angeknacksten Zehe beim Physiotherapeuten sitzen, um Schmerzmittel zu erbetteln.
Auch unter den Mitschülern will keiner als schwach angesehen werden. Weichlinge werden rasch als Außenseiter abgestempelt, und der Weg zurück in die Gemeinschaft ist hart. Wir sind jung, stark und unbesiegbar. Jeder ist hier der Beste oder wird es einmal werden.
3
Ich kenne es nicht, mich krank zu fühlen. Vielleicht auch, weil mein Umfeld von mir immer erwartet hat, gesund zu sein. Ich bin Leistungssportler. Mit sechs Jahren meldet mich mein Stiefvater bei der Juniorfußballmannschaft meines Heimatorts Stockerau an. Er selbst wie auch sein Schwiegervater, mein Großvater, haben ihr Leben lang in ihrer Freizeit auf dem grünen Rasen gespielt. Um mir die Anerkennung der beiden zu verdienen, trainiere ich so viel und hart ich kann. Bald wird klar, dass ich Talent habe. Die Trainer sehen, wie geschickt ich den Ball berühre, wie ich seine Flugbahn erahne, was für einen Riesenspaß mir das Spiel macht. Für das Training verzichte ich gerne auf meine liebste Fernsehsendung, auf einen Nachmittag im Freibad oder einen Kinobesuch mit meinen Eltern. In das Stammbuch meines besten Freundes schreibe ich unter die Frage nach meinem schönsten Tag, Pizza zum Mittagessen und Fußballtraining am Nachmittag.
Von jetzt an fahre ich in allen Schulferien ins Trainingslager, wo ich von österreichischen Fußballgrößen wie Didi Constantini und Hermann Stessl trainiert werde. Meine Eltern fördern mich gerne und sind daher bereit, die nicht gerade billigen Camp-Aufenthalte zu bezahlen.
Mit dreizehn Jahren wechsle ich von der Stockerauer Fußballmannschaft in die von Spillern, eine höhere Liga. Dort werde ich rasch zum wichtigsten Stürmer, schieße die meisten Tore der Saison und verhelfe der Mannschaft zum Sieg in der Meisterschaft. Im Ort bin ich ein kleiner Star. Die hübschesten Mädchen des Dorfs versäumen keines meiner Spiele, winken mir von der Tribüne aus zu, springen bei jedem Tor auf und rufen meinen Namen. Wenn ich sie nach dem Match anspreche, laden sie mich zu Grillfesten und Poolpartys in die Häuser ihrer Eltern ein. Die Burschen nicken anerkennend, klopfen mir auf die Schulter, wollen bei mir einschlagen. Im Ort gibt es keinen Gleichaltrigen, der mich nicht grüßt, wenn er mir auf der Straße begegnet. Alle wollen zu unserer Fußballclique gehören.
Als ich, von meinen Fans und der Familie umjubelt, den Meisterschaftspokal in Händen halte, bin ich der glücklichste Junge der Welt. Ich spüre sein Gewicht in meinen Händen, sehe den Sonnenglanz des Metalls und fühle mich durch ihn erhoben. Mein Trainer dreht den Lautstärkeregler der Musikanlage bis zum Anschlag.
»We are the Champions« dröhnt über den Platz. Ich höre die Rufe nicht mehr, kein Klatschen und keine Gratulationen, sehe nur noch mein Lebensziel. Ich will Fußballprofi werden.
Mein Traum scheint in Erfüllung zu gehen, denn schon kurz darauf werden meine Eltern von den verschiedensten Leistungssportzentren Österreichs angerufen. Meine Mutter spricht mit den sportlichen Leitern und erkundigt sich nach den Kosten, ob ich weiterhin zu Hause wohnen kann oder welchen Abschluss mir die Schule ermöglicht. Sie versprechen mir, mich zu einem Star zu machen, malen mir eine glänzende Karriere aus, reden von einer Einberufung in das Nationalteam und von einer Menge Geld, die es zu verdienen gäbe. Als ich meinen beiden kleinen Brüdern davon erzähle, sind sie natürlich neidisch, zugleich aber wirken sie auch stolz, einen so erfolgreichen großen Bruder zu haben.
Es schmeichelt mir, so umworben zu werden, etwas Besonderes zu sein. Rasch entscheiden meine Eltern und ich, dass ich mit dem kommenden Schuljahr in das Sportgymnasium St. Pölten wechseln werde. Unter der Woche werde ich im zugehörigen Internat wohnen. Meine Eltern haben sich vor allem für diese Schule ausgesprochen, weil sie mit Matura abschließt.