Allerdings fühle ich mich schwach und ausgeliefert. Am liebsten würde ich den Arzt und meine Mutter anschreien, aufspringen und diesen widerlichen Ort verlassen. Aber ich bin körperlich nicht in der Lage dazu. Deshalb beschließe ich, mich auf passiven Widerstand zurückzuziehen. Ich wende mich ab, lasse die Müdigkeit, die ich in mir spüre, die Oberhand über meinen Zorn gewinnen, und drifte in einen Dämmerschlaf ab.
Im Einschlafen überlege ich noch, wann ich wohl wieder zum Training zurückkehren kann. Ich grüble, was ich tun könnte, damit meine Mutter und die Ärzte es mir erlauben. Auch wenn ich innerlich weiß, dass sie es gut mir meinen, sind sie zu meinen Gegnern geworden, die ich überwinden muss, um wieder das Leben führen zu können, das ich will. Ich blinzle noch einmal und präge mir das mich abstoßende Interieur des Krankenhauses, seinen Geruch und seine widerwärtig milden, beruhigenden Farben ein. Wenn ich keine Spieler auf dem Platz bekämpfen kann, dann werde ich eben das hier bekämpfen, denke ich trotzig. Dann ist eben das Krankenhaus mein Gegner.
Als ich nach dem kurzen Erholungsschlaf erwache, ist es Abend. Meine Mutter hat bereits unsere Sachen gepackt. Da es nur ein geringfügiger Eingriff war, darf ich das Krankenhaus noch an diesem Tag wieder verlassen. Das scheint mir ein gutes Zeichen zu sein. Meine Stimmung hellt sich ein wenig auf, während ich das Spitalshemd gegen Jeans und Pullover tausche.
Auf der Heimfahrt kauft meine Mutter an einer Tankstelle ein Feuerzeug und eine Packung Zigaretten. Sie öffnet die Packung mit fahrigen Bewegungen. Die Zigaretten rutschen heraus, fallen zu Boden. Meine Mutter greift nach einer, steckt sie in den Mund und zündet sie an, als wäre sie ein lebensnotwendiges Medikament. Sie hat das Rauchen vor eineinhalb Jahren aufgegeben, wie ich mich sehr genau erinnere. Erst jetzt fällt mir auf, dass meine Mutter krank und gealtert aussieht. Die feinen Fältchen und Linien scheinen sich mit einem Mal tief in ihr Gesicht gegraben zu haben. Ihre Augen sind gerötet, die Tränensäcke geschwollen.
Die Zigarette inhaliert sie in wenigen, intensiven Zügen. Dann schiebt sie mich zurück zum Auto, steigt ein und startet wortlos den Motor.
7
Am nächsten Tag muss ich zu einer Magnetresonanz-Untersuchung in die Landeshauptstadt St. Pölten. Wie genau meine Mutter es geschafft hat, so schnell den nächsten Untersuchungstermin zu bekommen, ist mir schleierhaft. In jedem Fall ist sie dafür den ganzen Abend am Telefon gehangen. Ich überstehe die Prozedur mit meiner schon im Goldenen Kreuz erprobten Methode des passiven Widerstandes. Meine Mutter scheint das nicht zu stören, solange ich alles mit mir machen lasse, was sie und die Ärzte von mir verlangen.
Danach ist erst einmal Ruhe. Das Nikolaus-Fest steht vor der Tür. Traditionell feiern wir es bei meinen Großeltern, und diese Feier scheint mir der ideale Ort zu sein, um in die Normalität zurückzukehren und den Spitals-Albtraum hinter mir zu lassen.
Es ist früher Nachmittag und noch hell draußen. Als wir Kinder jünger waren, hat sich mein Stiefvater an diesem Tag manches Mal als Nikolaus verkleidet und uns die Jutesäckchen, die mit Mandarinen, Äpfeln, Nüssen, Schokoladekrampussen und Vanillekeksen von Oma gefüllt waren, gegen Vortrag eines kurzen Gedichts überreicht. Schon als ich vier Jahre alt war, habe ich ihn beim Betreten des Hauses an seinen Schuhen erkannt.
Wir sitzen um den großen Esstisch, meine Brüder reden und lachen. Mein Opa spricht über die Fußballsaison, über die Leistungen seiner Lieblingsmannschaft Rapid, beklagt Spritpreise, das immer teurer werdende Service seines Autos und amüsiert sich über meine Geschichten aus dem Internat. Über meine Gesundheit spricht hier niemand, und darüber bin ich heilfroh.
Da mein Opa mich oft zur Schule fährt und ebenso oft zu den Matches begleitet, kennt er die meisten meiner Klassenkollegen und fragt mich gerne über ihre neuesten Streiche und Späße aus. Wenn ich ihm davon erzähle, verändert sich sein Gesichtsausdruck. Er wird weicher und milder und sein spitzbübisches Lachen erinnert mich dann an das eines kleinen Jungen. Die Großmutter will wissen, ob es schon einen Termin für die Weihnachtsfeier im Fußballverein gibt, fragt, ab wann ich und meine Brüder trainingsfrei haben, was die Schule macht und ob im Heim ordentlich gekocht wird. Ich sage, dass das Essen in unserer Kantine nicht annähernd so gut schmeckt wie das ihre, und sie lächelt zufrieden. Mein Stiefvater setzt sich neben meinen Opa, spricht mit ihm über den österreichischen Fußball. Sie diskutieren, ob Rapid es schaffen wird, dieses Jahr den Meistertitel zu holen, sind sich einig, dass das Nationalteam nicht mehr so gut ist und seine Spieler nicht mehr so ehrgeizig sind wie früher.
»Die Burschen sind alle zu verwöhnt. Es spielt ja keiner mehr in seiner Freizeit im Park«, sagt mein Opa und schüttelt den Kopf. Mein Stiefvater nickt und holt Naschereien aus der Küche. Wie immer hat meine Mutter sie schon zwei Wochen zuvor für uns besorgt. Aber sie ist diesmal nicht wie sonst bei unserer Feier dabei. Sie trifft sich in Wien mit einem gewissen Professor Helmut Gadner. Natürlich weiß ich, dass es dabei um mich geht.
In den vergangenen zwei Tagen hat meine Mutter ihre manische Telefonaktivität noch gesteigert. Sie hat pausenlos mit Medizinern telefoniert, Meinungen eingeholt und das weitere Vorgehen geplant. Ich selbst war damit beschäftigt, die Erinnerungen an die Operation und die Untersuchungen im Krankenhaus zu verdrängen. Ich habe mich entschieden, über die möglichen Konsequenzen einfach nicht nachzudenken. Ich möchte Profisportler sein, und Profisportler sind nicht ernstlich krank.
Meine Brüder streiten gerade darüber, ob Ronaldo oder Figo der bessere Fußballer ist, als meine Mutter auf einmal im Zimmer steht. Niemand von uns hat sie das Haus betreten gehört, keiner damit gerechnet, dass sie so schnell wieder aus Wien zurück sein würde.
Sie sieht mich an. Ihr Blick ist so konzentriert, dass ich das Gefühl bekomme, es seien nur wir beide im Raum.
»Pack deine Tasche, Nino!«, sagt sie, »wir müssen ins Spital.«
Ihre Stimme klingt einen Halbton tiefer als gewöhnlich.
»Jetzt!? Sofort!?«, stottere ich. Ich kann nicht glauben, dass sie mich aus der gemütlichen Atmosphäre reißen will. Sie nickt, und ihr Gesicht hat die Farbe von kalkigem Stein.
Ich achte nicht darauf, wie meine Großeltern, meine Brüder und mein Stiefvater reagieren. Ich spüre bloß, wie ein Wall der Abwehr in mir wächst. Ich steige bloß wegen der Blässe meiner Mutter in den Wagen, wegen ihrer versteinerten Körperhaltung und ihrer veränderten Stimmlage. All das gibt mir ein Gefühl, als hätten mich zwei schrankbreite Türsteher untergehakt, um mich wer weiß wohin zu befördern. Widerstand zwecklos.
Die gesamte Fahrt über sprechen wir kein Wort miteinander. Es ist diese Ruhe vor dem Sturm, die mir mehr Angst macht als alles andere. Denn während der Autofahrten der vergangenen Tage habe zwar ich meine Mutter angeschwiegen, um meinen Widerwillen zum Ausdruck zu bringen. Aber sie hat sich, wie sie es immer tut, trotzdem bemüht, wenigstens ein bisschen Konversation zu betreiben, auch wenn sie dabei in mir ein denkbar ungeeignetes Gegenüber hatte.
Diesmal geht das Schweigen von ihr aus, und es ist so drückend, dass ich es nicht wage, es zu brechen. Dabei ist mir die Stille plötzlich so unangenehm, dass ich meiner Mutter dankbar wäre, wenn wir irgendein belangloses Gespräch führen würden. Aber es geht nicht, und das macht mir den Ernst der Lage auf die schrecklichste Weise bewusst.
Das St. Anna Kinderspital liegt ganz in der Nähe vom Goldenen Kreuz, wo vor drei Tagen der Eingriff vorgenommen wurde. Als ich aus dem Wagen steige, will ich deshalb in die andere Richtung gehen. Meine Mutter hält mich zurück. Sie deutet stumm auf den richtigen Eingang. Ich lese den Namen des Spitals dreimal. Werbebilder von Spendenkampangen poppen in meinem Kopf auf. Ich sehe Kinder mit durchscheinender Haut. Bläulich schimmernde Adergeflechte. Die Kinder haben keine Haare. Nicht einmal einen Flaum, weder Brauen noch Wimpern. Durch die fehlende Begrenzung wirken ihre Augen