Günther erzählt die Geschichte nicht ohne Stolz. Schon damals zeigt sich, dass er ein Kämpfer ist und die Behandlungen nicht einfach über sich ergehen lässt. Für ihn ein wichtiges Verhaltensmuster auf dem Weg zur Genesung.
8
Wir werden zum ärztlichen Direktor des Krankenhauses geführt. Professor Gadner begrüßt uns freundlich. Seine Stimme klingt warm, aber bestimmt. Ich höre ihn reden und nehme die Laute wie durch einen Filter gedämpft wahr. Ich erkenne den sachlichen Tonfall, verstehe die Worte nicht und fühle mich trotzdem sicherer als zuvor. Auch meine Mutter sieht beruhigter aus. Prof. Gadner erklärt lange, bespricht ausführlich, erkundigt sich erneut nach dem bisherigen Krankheitsverlauf. Meine Mutter hat sich die Augen getrocknet, sich in ihrem Sessel aufgerichtet, als könne sie so jeden einzelnen Satz, jedes Wort und jede Silbe besser in sich aufnehmen. Sie sammelt die Informationen wie Teile eines Schutzpanzers für mich, und ich beginne mich langsam besser zu fühlen. Meine Gedanken wandern aus dem Zimmer.
Ich stelle mir den Sportplatz vor, sehe meine Mitschüler dem Ball hinterherjagen und Tore schießen. Ich war glücklich im Internat. Ich habe junge Leute kennengelernt, die wie ich für den Sport leben, fühlte mich selbstständig und frei. Niemand wollte von mir wissen, ob ich schon für die nächste Mathematikschularbeit gelernt habe, oder wie ich plane, mich für den kommenden Geographietest vorzubereiten. Dort gab es auch keine Kranken, keinen Krebs, kein Sterben.
Ich schweife noch etwas weiter ab und fange an, mich an die Mädchen im Internat zu erinnern. Als besondere Mutprobe für die Burschen gilt es dort, vorbei am Erzieher in eines der beiden Mädchenstockwerke zu schleichen und einen Gegenstand aus einem der Zimmer zu entwenden. Mir fällt ein, wie ich einmal dabei erwischt worden bin und am nächsten Tag bei der Direktorin des Internats erscheinen musste. Damals hatte ich fürchterliche Angst. Nicht, weil ich so großen Respekt vor der Direktorin hatte, sondern weil sie mein Fehlverhalten bei nächster Gelegenheit dem sportlichen Leiter melden würde, der es wiederum den Trainern berichten konnte, woraufhin es dann mit Sanktionen belegt wurde.
Ich erinnere mich daran, wie ich im Büro der Direktorin an das blonde Mädchen dachte, in dessen Zimmer ich geschlichen war. Wie kokett und einladend mich das Mädchen angegrinst hatte, als ich ihr Haarband vom Nachttisch genommen und mich wieder hinausgeschlichen hatte, und wie ich im Angesicht der schimpfenden Direktorin das Gefühl hatte, dass dieses Grinsen die Strafe, die ich bekommen würde, durchaus wert gewesen ist.
In diesem Moment, in Professor Gadners Zimmer, neben meiner aufmerksam auf seine Worte lauschenden Mutter, wird mir klar, dass ich aus meiner Welt gekippt bin. Vielleicht werde ich dieses Mädchen, die Direktorin, das ganze Internat, nie mehr wiedersehen. Vielleicht werde ich nie mehr gegen einen Fußball treten. Vielleicht werde ich hier sterben, schon bald.
Wieder drückt es mir Tränen in die Augen, diesmal Tränen des ohnmächtigen Zorns über die Ungerechtigkeit, dass ausgerechnet ich von all den vielen Schülern im Internat nicht das Recht haben soll, weiterzuleben. Warum, zum Teufel? Ich würde es am liebsten herausschreien!
In diesem Moment will Professor Gadner von mir wissen, ob ich noch Fragen an ihn habe, und ich schrecke auf.
»Wie lange werden die Untersuchungen dauern? Kann ich morgen wieder in St. Pölten sein?«, frage ich, ohne daran zu glauben.
Dr. Gadner schüttelt den Kopf mit einer Vehemenz, als wolle er mir verdeutlichen, dass ich den Ernst der Lage verkenne. »Ich fürchte, das ist unmöglich, Nino«, sagt er mit ruhiger Stimme.
Nach dem Gespräch schickt uns Professor Gadner zur Aufnahme auf unsere Station. Wir gehen durch die Gänge des Spitals, die mir mit jedem Schritt enger und dunkler erscheinen, benützen den Aufzug, dessen sich schließende Türen mir das Gefühl geben, gefangen zu sein.
Die Schwester auf der Station begrüßt uns freundlich, fragt, ob ich Schmerzen habe, und ich verneine. Sie bietet uns ein Glas Wasser an, das ich dankbar annehme und in einem Zug leere. Meine Mutter trinkt schluckweise und mechanisch, so als sei sie in Gedanken an einem ganz anderen Ort. Die Schwester verschwindet im Personalzimmer, kehrt mit einem Stapel Blätter und einem Kugelschreiber zurück.
Sie fragt meine Mutter, ob sie mit aufgenommen werden möchte. Meine Mutter nickt. Sie nennt der Schwester unsere Namen, die Adresse, Telefonnummer, Versicherungs- und Geburtsdaten. Nach der Reihe muss sie Fragen über meine Kinderkrankheiten, vorangegangene Operationen und getätigte Impfungen beantworten, noch einmal meinen Gesundheitszustand schildern, wird nach bei mir vorhandenen Allergien und Unverträglichkeiten, regelmäßigen Medikamentengaben, meinen Ess- und Trinkgewohnheiten befragt. Sie soll den Verlauf ihrer Schwangerschaft mit mir und meine Geburt schildern und ich stutze, ärgere mich, frage mich, wozu das nach all den Jahren noch nützlich sein soll.
Ich habe das beklemmende Gefühl, dass nicht nur meine Gegenwart, sondern auch meine ganze Vergangenheit von diesem Spital aufgesogen wird. Bald wird mein Leben, ein Fußballer auf dem Weg zum Profi, nicht mehr wahr sein, denke ich. Bald werden sie mich zu einem Krebskind degradiert haben, das wie alle anderen nur noch das Recht auf Sterben und Mitleid hat. Aber obwohl ich die Fragerei als peinlich und indiskret empfinde, schweige ich, weil ich mich ausgelaugt und erschöpft fühle. Zum Schluss will die Schwester wissen, ob meine Mutter bereit ist, ihre Zustimmung zur Teilnahme an den laufenden Studien zu geben. Sie erklärt, dass die Ergebnisse der Studien Grundlage neuer Forschung seien und somit der Entwicklung von verbesserten Heilmethoden dienen würden. Sie versichert, meine Patientendaten würden dabei vertraulich behandelt werden, und meine Mutter gibt ohne langes Zögern ihr Einverständnis, nickt und unterschreibt wie ein Roboter. Gerne würde ich ihr den Stift aus der Hand nehmen. Was kümmern mich »verbesserte Heilmethoden« für andere, wenn ich hier krepieren muss, denke ich.
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