Eine wichtige Methode dabei ist die Übertreibung, wie es schon Günther Anders vorschlug, denn sonst würden die Phänomene „unidentifizierbar“ oder „unsichtbar“ bleiben.18 Und das ist in unserem Fall manchmal paradox: Es bedarf der Übertreibung dessen, was „zu groß“ ist, als dass wir es im Normalfall wahrnehmen. Es übersteigt unseren Horizont. Oder die Veränderungen sind zu minimal, als dass wir darüber im Normalfall nachdenken. Übertreiben, überspitzen, überpointieren wir es also, dann merken wir, was „es“ mit uns macht und was wir mit dem neuen digitalen Lebensgefühl machen wollen, können, dürfen oder lieber bleiben lassen sollten. Fangen wir an, uns neu zu erzählen.
Mit dem ganzen Leib: Phänomenologie
Du könntest diese Anmerkungen zur Anatomie des Handy-Menschen auch „Phänomenologie des Handy-Menschen“ nennen. Denn mit Edmund Husserl teile ich folgende These der philosophischen Schule, die sich Phänomenologie nennt: Der Sinn und die Bedeutung von irgendetwas liegt nicht dahinter verborgen, sondern mitten darin. Er geht uns nicht auf, indem wir das Phänomen, um das es geht, (psychologisch, biochemisch, soziologisch etc.) erklären und damit letztlich zum Verschwinden bringen, sondern indem wir es genau und immer präziser beschreiben, in Zeitlupe nachverfolgen oder bewusst vergrößern. Sodass wir das, was wir beobachtet haben, in Worte fassen, um es erst mal richtig sichtbar zu machen. Wir müssen, um „zu den Sachen selbst“ zu kommen, gerade alle Theorien, Vormeinungen, ja unser „Wissen“ ausklammern.
Mit Hermann Schmitz, dem Begründer der neuen Phänomenologie, der jahrzehntelang an einer Phänomenologie des menschlichen Leibes gearbeitet hat, teile ich den Gedanken, dass wir Menschen uns nicht in Körper und Seele auftrennen sollten, nicht in Verstand und Gefühle, um uns zu verstehen. Wir sind ein Ganzes, wir nehmen uns und die Lebenswelt als Ganzheit wahr. Wir erfahren uns und die Welt nicht rein körperlich, nicht rein seelisch, nicht rein sinnlich, nicht rein gedanklich, sondern mit dem ganzen „Leib“, wie Hermann Schmitz es nennt. Er fügt hinzu: Es sind daher auch gar nicht die Gedanken, die uns zu dem machen, was wir sind, sondern die Gefühle, die uns gleichsam von irgendwoher ergreifen und maßgeblich in unser Leben eingreifen. So kommt Schmitz auf ganz neue Schlüsselszenen dessen, was uns ausmacht und was uns bestimmt.19
Und schließlich finde ich den Gedanken des Philosophen und Soziologen Max Scheler sehr plausibel, dass sich auch das Gute intuitiv „erfühlen“ lässt. Dass sich „Werte“ erfühlen lassen. Dass wir uns zu ihnen hingezogen fühlen, mit dem ganzen Leib, unmittelbar, intuitiv, so dass es uns kalt den Rücken runterläuft oder sich uns die Haare aufstellen, wenn etwas unseren Werten zuwiderläuft. Und dass wir sehr wohl unterscheiden können: zwischen persönlichen Vorlieben und „höheren Werten“, die dauerhaft sind, Einheit stiften, eine überindividuelle tiefe Befriedigung bringen oder die sogar so absolut erfahrbar werden wie die Würde. Und dass es gerade deshalb darauf ankommt, das Fühlen zu trainieren und mögliche Abgestumpftheit zu überwinden, um zu merken, was guttut und was gut ist.20
Illtümer: Was wir glauben, muss nicht stimmen
Es gibt bei unserem Zusammenleben mit dem Smartphone nicht nur Abstumpfungen, sondern auch grundlegende Verunsicherungen. Für Erstere habe ich bei dem österreichischen Sprachakrobaten Ernst Jandl das treffende Wort ILLTUM gefunden. Illtum ist eines der schönsten Worte, die es gibt bzw. nicht gibt. Es stammt aus Jandls Gedicht „lichtung // manche meinen / lechts und rinks / kann man nicht / velwechsern. / werch ein illtum!“21
Illtum ist für mich eine folgenreiche Mischung von Irrtum und Illness. Ein krankmachender Irrtum, mehr zu fühlen als zu definieren. Gut gemeint, aber damit das Gegenteil von gut – doch, und das ist das Entscheidende, wir bemerken es nicht. Einfaches Beispiel: Das Internet, der digitale Weltinnenraum, ist u. a. geboren aus dem Aufbruchsgeist der Hippies, verknüpft mit dem Fortschrittsgedanken, die Welt zu einer besseren, gleicheren, global zugänglicheren zu machen. Endlich sollte jede mit jedem hierarchiefrei, vom Du zum Du zum Ihr, zu allen mit jedem kommunizieren können, über alle Grenzen hinweg! Ziel war der freie, gleiche, geschwisterliche Zugang zum Weltwissen und zu uns selbst! Und das unabhängig von Verdienst, Bildung und sozialem Status! Ein befreiender Gedanke, wahrhaft revolutionär! Mittlerweile halten viele, sogar die Pioniere des Internets selbst, all das für einen Riesenirrtum. Einer der Gründer, Tim Berners-Lee, arbeitet 30 Jahre nach Einführung des WWW sogar an einer Alternative mit dem Namen Solid, kurz für Social Linked Data.22 Demokratien werden gegenwärtig nicht gestärkt, sondern bedrängt, die Netzmacht ist in den Händen weniger, demokratisch nicht legitimierter Mega-Konzerne, und wir werden nicht als Weltbürger, sondern meist nur als potentielle Kunden angesprochen. Doch wir nehmen dies in der Praxis allenfalls zur Kenntnis, ignorieren es aber in der Regel oder merken es gleich gar nicht. Wir sind bei der Grunderzählung geblieben, das Internet sei erlösender Fortschritt pur. Das ist eine Verwechslung. Ein Illtum.
Zersplintert: Wo sind wir, wenn wir ins Smartphone schauen?
Noch eine zweite Verunsicherung macht uns zu schaffen, und wir werden ihr immer wieder begegnen. Auch dafür habe ich ein Wort gefunden, das es nicht gibt, das wir aber gut brauchen können. Wir verdanken es Klaus Fritz, dem deutschen Übersetzer von Harry Potter. Er übersetzt das englische to be splinched mit zersplintert sein oder zersplintert werden. Es bezeichnet missglückte Teleportationen, wenn also Bein, Hand oder Fuß sich an einem Ort, der Rest des Menschen an einem anderen Ort befinden. Ich beschreibe damit die Verwechslung von Ort und Anwesenheit. Wo sind wir, wenn wir in der U-Bahn sind und zugleich in den digitalen Welten hinter dem Touchscreen? Wo ist deine Partnerin, wo ist dein Partner, wenn sie oder er jemand anderem schreibt, während du ein Gespräch führen willst? Diese grundsätzliche Frage wird uns immer wieder beschäftigen.
TINA: Alternativlos ausgeliefert?
Die dritte Verwechslung, die uns durch diese anatomischen Betrachtungen begleiten wird, ist ein eigenartiger Defätismus. Ein Sich-Ergeben. Eine Art Lähmung. Seit längerem wird diese Denkstruktur als TINA bezeichnet. TINA ist die berühmt gewordene Abkürzung für There Is No Alternative. Ein Satz, der im Politischen von Margaret Thatcher geprägt wurde und sich in den vergangenen Jahren auch gesamtgesellschaftlich zu einer beliebten Argumentationsstrategie entwickelt hat, 2010 wurde „alternativlos“ zum Unwort des Jahres gewählt. Der US-amerikanische Philosoph Francis Fukuyama hat dieser Lebenseinstellung ein philosophisches Denkmal gesetzt, indem er das „Ende der Geschichte“ ausrief und im Wesentlichen keine Alternativen zum Kapitalismus mehr erwartete. Susan George oder Carl Amery haben dem entgegengehalten: Es gibt tausende Alternativen.23 Dieses TINA-Syndrom durchzieht auch unser persönliches Empfinden, wenn es um die digitale Welt geht. Die stellt sich uns ja – unter anderem in ihrer Undurchschaubarkeit – auf den ersten Blick als alternativlos da. Klassisches Beispiel: Das Internet ist kostenfrei, dafür werden unsere Daten abgesaugt und verkauft – es zeigt sich uns keine Alternative und so schlucken wir es. Wir können es nicht ändern. Oder: Wir stimmen allen AGBs aller Apps zu, in der Regel, ohne sie zu lesen. Wir können sie nicht ändern, wollen aber unbedingt mitspielen. Wer bei Google gefunden werden will, muss sich den Google-Regeln unterwerfen – sonst kommt man nicht vor. Solches TINA-Denken hat auch so manche Denker der Digitalisierung und Propheten der Künstlichen Intelligenz so sehr im Griff, dass es genügend gibt, die behaupten, der point of no return sei schon längst überschritten, und die Schreckvisionen der sich selbstständig machenden Megaintelligenzen und der Weg der Weltherrschaft von KIs seien nicht mehr abzuwenden. Doch: Alles könnte anders sein, schreibt der Zukunftsforscher Harald Welzer.24 Das Gegenmittel gegen das TINA-Denken kann nur Infragestellung der Selbstverständlichkeiten sein, nach dem Motto: Alles kann, nichts muss.
Damit ist das Instrumentarium umrissen. Jetzt geht’s ans Eingemachte. Wir können mit dem Scan des Handy-Menschen beginnen.