Wir bauen uns auch Werkzeuge und strukturieren, sollten wir mit ihnen Erfolg haben, unsere Tätigkeiten ihnen zuliebe um, man denke an die Umwandlung unserer direkten Umgebung in menschenfeindliche Verkehrsadern, dem Werkzeug Auto zuliebe. Wir schaffen uns ebenso geistige Hilfsmittel, die, wenn sie sich als hilfreich erweisen, unsere Wege fortan bestimmen und auf uns zurückwirken. Ludwig Feuerbach, einer der einflussreichsten Philosophen des 19. Jahrhunderts, meinte, das „Wesen des Menschen“ bestehe darin, sich das Ergebnis seines geistigen Schaffens als normatives Gegenüber zu denken – und im Extremfall sogar zu vergöttern und anzubeten.14
Früher, zu Zeiten, die uns mittlerweile vorkommen wie tiefstes Mittelalter, früher, also vor etwas mehr als zehn Jahren, früher, ja damals …, da war das Handy nur ein mobiles Fernsprechgerät. Ungeheuer praktisch, wenn man unterwegs war und jemanden anrufen wollte und keine Telefonzelle „zur Hand“ war. Heute ist unser zum Smartphone evolviertes Handy nur noch nebenbei ein Telefon. Es ist Briefkasten, Telegramm- und Funkstation, Adressbuch, Kalender, Notizbuch, Diktiergerät, Videokamera, Foto und Album, Spiegel, Wecker, Spielgerät, Zeitung, außerdem noch Taschenrechner und Taschenlampe, Navigator und Weltatlas, Lexikon, Wetterfrosch und Thermometer, Radio, Fernseher, CD-Player, Flohmarkt, Einkaufscenter, Kontaktbörse, Puff, Meinungsmacher, Zeitungsersatz, Newscenter, Stammtisch, Aufenthaltsraum, Büro, Meetingpoint, Marktplatz, Pranger, Gegenüber, Freund und Helfer – und ganz grundlegend ist das Handy unser Tor zur Welt, in der digital und analog längst verschränkt existieren, so dass man, wie man angesichts der Corona-Pandemie gesehen hat, das Analoge sogar ins Koma legen kann, ohne dass wir zusammenbrechen.
Mein weites Ich: Potenz in Reinform
Der prägende Denker der Medienwissenschaften des 20. Jahrhunderts, Marshall McLuhan, selbst Pop-Ikone seiner Zeit, bezeichnete jedes Medium als „Ich-Erweiterung“. Ganz konkret gemeint. Ich erweitere meinen Horizont. Das beginnt bei der Schrift und den daraus entstehenden Texten. Das funktioniert auch beim Radio und beim Fernsehen. Auch dort reisen wir in der Vorstellung durch Raum und Zeit. Allerdings bleiben wir dabei abhängig von dem, was gesendet wird.
Das Smartphone ist nun eine potenzierte, eine radikale Ich-Erweiterung in jede Richtung und mit völlig individuellen Möglichkeiten. Es entspricht damit der Plastizität des menschlichen Gehirns aufs Vortrefflichste. Oder, um es mal voller Pathos religiös auszudrücken, es entspricht der Welt- und Gottoffenheit des Menschen. Schon die smarte Oberfläche, der Touchscreen, ist Potenz in Reinform. Alles ist möglich! An jeder Stelle kann jedes beliebige Bild auftauchen. Und, mobile Daten vorausgesetzt, von jeder Stelle aus kann ich an jede Stelle der digitalen Welt tauchen. Eine radikale Ich-Erweiterung ist möglich!
• Was ist mit den Fotos deiner Lieben auf dem Handy? Genügt es, sie auf der Card zu haben? Druckst du sie auch noch aus? Hängst du sie auf oder gestaltest ein Fotoalbum? Vergleiche dich mit vor zehn Jahren!
• An wie vielen Tagen genügt es dir, kurz und knapp mit ein paar Leuten zu chatten, und an wie vielen Tagen triffst du dich wirklich mit einem realen Menschen? Vergleiche dich mit vor zehn Jahren! Vergleiche vor und nach dem Lockdown!
• Fühlst du dich erst so richtig in der Arbeit angekommen, wenn du deinen Rechner hochgefahren hast und die Programme laufen? Wann machst du das Handy am Morgen an – und wann machst du es aus?
Innerhalb weniger Jahre haben wir uns auf diese Weise individuell verknüpft, verbunden und uns selbst ausgelagert – und wähnen uns dabei frei. Weil wir auf den ersten Blick so viel selbst bestimmen und wählen und googeln können, erleben wir die Zwänge und Gesetzmäßigkeiten des neuen Mediums nicht als Fremdsteuerung oder Einschränkung unserer Freiheit. Wir haben ja unseren hilfreichen Begleiter nach unserem Willen und Gusto gestaltet, haben Klingeltöne ausgewählt, den Hintergrund und den Sperrbildschirm bestimmt sowie ein persönliches Passwort erfunden. So was fühlt sich frei und machtvoll an. So was lieben wir, weiß die Handyindustrie.
Perspektivwechsel: Die Botschaft fühlen
Von Marshall McLuhan stammt auch der Slogan: „The medium is the message.“ Das Medium ist die Botschaft. Was bedeutet: Jedes Medium verändert seine Nutzer. Um herauszufinden, wie und auf welche Weise, muss man die Blickrichtung ändern und den Möglichkeiten des Mediums nachspüren. Dann erst haben wir die Botschaft begriffen.15 Darum sollte es uns gehen, wenn wir die „digitalen Endgeräte“ betrachten.
Wer gedacht hatte, mit einigen Unterrichtsstunden in Medienkompetenz bekäme man das Universum Smartphone in den Griff, wird seit einiger Zeit eines Besseren belehrt. Medienkunde ist nur ein, wenn auch wichtiger Baustein, was fehlt, ist vor allem Menschenkunde. Wir müssen unser Selbstgefühl wiedergewinnen, um zu beschreiben, was mit uns passiert, wenn wir das Handy und über das Handy die weltweite digitale Maschinerie nutzen. Das Medium ist die Botschaft, und das heißt auch: Es schafft die Bedingungen, unter denen wir als Medien-User leben, es ist, noch einmal, zum einen Ausdruck, zum anderen kraftvoller Motor eines neuen Lebensgefühls. Vieles von dem, über das in den kommenden Kapiteln nachgedacht wird, lässt sich daher nicht nur diskutieren und sachlich beschreiben. Man muss es auch erfühlen.
Erfühlen? Schwierig, wirst du vielleicht sagen. Bleiben wir doch lieber bei den harten Fakten! Aber warte. Vielleicht ist das Fühlen-Können ja genau eine der Fähigkeiten, die uns von der digitalen Sicht auf uns Menschen unterscheidet. Wir sind fühlende Denker. Oder denkende Fühlende. Als Einheit. Das ist schließlich auch die Hoffnung der Hoffnungsvollen, dass wir am Ende durch die Auseinandersetzung mit Künstlicher Intelligenz und den digitalen Welten einen neuen, geklärten Blick aufs Menschlich-Sein und In-der-Welt-Sein bekommen. Es gilt nicht nur der Kampfruf der Aufklärung sapere aude, wage zu denken! Es gilt auch sentire aude – trau dich zu fühlen!
Korrektur des Verstandes: Sentire aude
Denn von allen Seiten wird derzeit eine neue Aufklärung gefordert, durchaus im Kant’schen Sinne, von dem der Kampfruf sapere aude bekanntlich stammt. Wir sollen wieder mündig werden. Wir sollen uns aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien, aus dem Diktat der neuen Gesetzmäßigkeiten der Digitalisierung. Die Stimmen sind durch die Diskussion über die Reanimierung der Gesellschaft mit oder nach Corona gerade in den Hintergrund getreten – auf bedenkliche Weise. Denn dass uns das Digitale über manche Ausgangsbeschränkung hinweggeholfen hat, ist noch kein Argument, es weiterhin unbedarft zu umarmen.
Geistesgeschichtlich betrachtet, hat die Epoche der Aufklärung schon wenige Jahrzehnte später durch die Romantik eine notwendige Korrektur erfahren. Als die Aufklärung in der Folge Immanuel Kants alles auf den Prüfstand des rationalen Denkens stellen wollte, alles in Frage stellte, alles, was bisher geglaubt wurde, erklären und damit relativieren wollte, wurde schnell die Kehrseite des Unterfangens deutlich. Eine nur rationale Welt hat keinen Sinn mehr. Sie ist kaltes Gehäuse. Sie funktioniert nach Mechanismen. Und der Mensch in ihr funktioniert auch nach Mechanismen. Nicht, weil er Sinn macht. Auch die großen Erzählungen, wozu die Welt und wir in ihr da sein könnten, wurden ja dekonstruiert, in Einzelteile zerlegt und historisch eingeordnet. Alles lässt sich seither wegerklären, sogar der Glaube an Götter oder einen Gott. Und auch der Mensch lässt sich wegerklären. So funktioniert der Körper eben. Oder das Gehirn. So funktioniert Biologie.
Knapp zwei Jahrzehnte nach Kants berühmter Maxime sapere aude formierte sich daher Widerstand gegen die totale Skelettierung des Sinns, der Münchner Theologe Hermann Timm hat die Romantik daher „heilige Revolution“16 genannt. Sie hat eine wichtige Korrektur geschaffen, um das Leben und alles, was ist, zu beschreiben: Das Leben trägt, so würden wir es heute vielleicht ausdrücken, den Sinn in sich. Und wir haben die „heilige“ Aufgabe, uns ganz individuell diesen Sinn zu erschließen. Die Romantiker griffen zu den Mitteln der Dichtung, der Poesie, die eben genau das Erspüren und Fühlen fördern sollte. Joseph von Eichendorff in seinem berühmten Gedicht „Wünschelrute“ bringt es so auf den Punkt: „Schläft ein Lied in allen Dingen, / Die da träumen fort und fort, / Und die Welt hebt an zu singen, / Triffst du nur das Zauberwort.“17
Uns neu erzählen: Methode Übertreibung
Dieses Zauberwort