• Denke dich in die Zeit vor Corona: Wann hattest du das letzte Mal dein Smartphone einen ganzen Tag lang aus?
• Und zu Corona-Zeiten: Wann und wo lebst du ohne Handy oder Tablet oder Laptop?
• Würdest du umkehren, wenn du auf dem Weg ins verlängerte Wochenende feststellst, dass du das Handy zu Hause liegen gelassen hast, auch auf die Gefahr hin, den Zug oder den Flieger zu verpassen?
• Schaust du auf die Wetter-App oder aus dem Fenster, wenn du wissen willst, wie das Wetter ist oder wie warm es ist? Und wem glaubst du mehr – der App oder deinem Blick?
• Wie lange hältst du es aus, dein Smartphone zu ignorieren, nachdem es vibriert, gepiepst, gezwitschert oder sonst einen Signalton von sich gegeben hat?
Ich: Homo Digitalis
Die digitale Revolution sei eine Medienrevolution, hieß es zuerst. Das klang ziemlich abstrakt und sehr weit weg. Das klang, als würde es Medien betreffen, nicht Menschen. Geräte und nicht Gefühle. Doch wie sich mittlerweile herausgestellt hat, stimmt das nicht. Es betrifft jeden von uns.
Was diese Medienrevolution mit uns macht, auch dafür haben wir noch gar keinen richtigen Namen. Was passiert mit uns? Und wer soll das schon sein, der Homo Digitalis? Der Mensch 4.0? Ich doch nicht! Oder doch? Konkret anschauen können wir all das, was mit uns geschieht – oder was wir mit uns machen lassen, was wir uns zumuten –, wenn wir zunächst einmal anerkennen, wie verwachsen wir mittlerweile mit dem Smartphone sind – neben dem Computer der tagtäglichen und für uns viel wichtigeren Schnittstelle zu „unserer“ digitalen Welt.
Der direkte, sichtbare Ausdruck für das, was Digitalisierung für uns bedeutet, ist das Smartphone geworden, mit dem wir eine ganze Welt mit uns herumtragen. Dieses flache Zauberkästchen ist unser Auge zum digitalen Jenseits. Es ist auch längst unser Kompass durch das analoge Diesseits. Es ist unsere Nabelschnur, mit der wir mit unserem digitalen „Zwilling“ oder „Schatten“ verbunden sind. Denn ohne dieses kleine Gerät fühlen wir uns mittlerweile mehr oder weniger amputiert. Und es ist noch nicht abzusehen, welchen Schub das social distancing der Digitalisierung bringen wird.
Online: Der verlängerte Geist
Das Handy war schon längst davor ein weiteres Körperglied. Wenn wir sagen, unsere Hand ist ein Teil von uns, dann sind wir auch Hand. Wenn wir sagen, das Handy ist ein Teil von uns, dann sind wir auch Handys. Das gilt es zu erspüren.
Seit Steve Jobs’ Präsentation des ersten iPhones im Januar 2007 mutieren wir zu Cyborgs, zu Mensch-Maschinen. Wir umklammern die Schnittstelle oft schon so fest, dass es bereits Kinder gibt, die der Meinung sind, das Wort Hand komme bestimmt von Handy, und wir verlagern unser Leben und Erleben Stück für Stück, Bit für Bit, dort hinein. Manche gehen sogar so weit, zu sagen, es wäre schon längst umgekehrt, und wir wären nur noch Hände und Füße für die Smartphones, die vielleicht schon die wahren Herrscher über unsere Körper und über unseren Geist sind. Und vielleicht war der Lockdown ganzer Gesellschaften zu Pandemie-Zeiten nur durchsetzbar und lebbar, weil wir den digitalen Teil unserer Selbst weiterleben durften.
Es geht in den folgenden Erkundungen der Anatomie des Handy-Menschen natürlich nicht um pro oder contra Smartphone, es geht ums Wie. Denn logisch, wer sich dem Smartphone und der digitalen Maschinerie dahinter komplett verweigert, würde sich schon heute mit einem Schlag so ziemlich von allem abkoppeln, was für die meisten von uns zählt. Es wäre ein Eremitendasein, und nur wenige halten es aus.1 Und es ist ja nur noch eine Frage der Zeit, bis nicht nur unsere Kommunikation, unser Büro und unsere Freunde, sondern die Dinge des alltäglichen Lebens in den digitalen Raum verlagert werden: Es war ja für viele spätestens durch Corona auch ein Aha-Erlebnis, wie konzentriert manche Treffen im virtuellen Raum über Zoom oder Teams oder Skype ablaufen können. Handy in die Tonne ist daher keine Alternative. Aber das Leben dem Smartphone zu überlassen ist auch keine.
Androide: An der digitalen Leine
Schon von Anfang an war das iPhone oder Smartphone (ich verwende Handy, Smartphone, iPhone synonym) mehr als nur eine Art elektronisches Taschenmesser mit vielen tollen Funktionen. Schon die Konzeption beinhaltete die Absicht, uns, unsere Selbstwahrnehmung und unseren Alltag radikal zu verändern. Bereits die Namen verraten es. iPhone heißt auf Deutsch Ich-Phone. Und das weltweit meistgenutzte Betriebssystem trägt den Namen Android. Das altgriechische Wort Androide bezeichnet menschenähnliche Gestalten.
An diesem menschenähnlichen Ich-Begleiter hängen wir längst viel mehr, als wir glauben und zugeben. Allein schon die höchst emotional geführte Diskussion, wie süchtig wir denn schon seien – nie wir selbst natürlich, immer die anderen –, macht mehr als nachdenklich.
Das Gute ist: Wir haben nicht nur die Pflicht, wir haben auch die Chance, mitzudenken und mitzureden, wenn es darum geht, zu spüren, wie wir uns verändern und was uns guttut. Welche Aspekte der Digitalisierung uns stärken, welche schwächen, welche ängstigen und welche einen gesellschaftlichen und persönlichen Rückschritt bedeuten würden. Denn alle sind immer noch Anfänger. Es gibt in dem Forschungsgebiet, in das wir uns mit den folgenden Erkundungen begeben wollen, noch keine Erfahrungen, die sich über Generationen vermittelt haben, wenig Lehrbücher, Leitbilder und Anweisungen. Es gibt digitale Propheten. Es gibt viele sehr bemerkenswerte Momentaufnahmen aus unterschiedlichsten Perspektiven, auf die wir zurückgreifen können. Aber so richtig lange Erfahrung hat noch keiner mit dem Smartphone sammeln können. Wie auch. Davor und daneben gab es einige Vorläufer für Spezialisten (wer verwendet noch Blackberrys oder Palms …), doch diese technische Geburt im Jahre 2007 markiert den entscheidenden Wendepunkt für unseren Alltag und unser Erleben, und das ist eben noch nicht lange her.
Nur eine Dekade später gibt es nur noch einige wenige Menschen, die nicht ganz selbstverständlich mit einem Smartphone zusammenleben oder eben vielmehr mit ihm verwachsen sind. 2018 wurden weltweit 1,4 Milliarden Smartphones verkauft.2 Im selben Jahr besaßen einer Schätzung zufolge rund zwei Drittel der Menschheit ein Smartphone,3 in Deutschland waren es 81 Prozent der Menschen, die älter als dreizehn waren.4 Und diese Zahlen sind heute, wenn du dieses Buch liest, schon alt. Ob es ein paar Millionen Smartphones mehr oder weniger sind, ist auch völlig egal, diese Zahlen belegen nur, was wir alle sehen und wissen, wenn wir mit der U-Bahn fahren, auf den Bus warten, uns im Büro umschauen, zu Hause am Tisch sitzen, mit Freunden oder mit unseren Kindern oder Enkelkindern unterwegs sind: Die allermeisten Erdbewohner gehen wie an einer digitalen Leine durch die Welt. Und dazu dient ja nicht nur das Smartphone, sondern dazu dienen außerdem auch noch Tablets, PCs, Laptops, Smart-Watches, Datenbrillen und Co. Derzeit erleben wir – coronabedingt – noch eine potenzierte Verlagerung des Alltags ins Digiale.
• Aufgabe 1: Geh auf die Straße und zähle die Leute mit Handy, die dir begegnen.
• Aufgabe 2: Du hast die S-Bahn verpasst. Oder du hast zehn Minuten Mittagspause. Keiner will etwas von dir. Was könntest du noch tun, außer zum Handy zu greifen? Fällt dir nichts mehr ein?
Sichtprobleme: Keine Vergleichsgruppe ohne Handy
Alle sind Anfänger. Anfänger, die manchmal staunend und zukunftsfreudig, manchmal angstvoll und alarmiert beobachten, analysieren, fühlen und erfahren, welche Veränderungen innerhalb ganz weniger Jahre die digitalen Geräte in unseren Händen mit uns als Einzelne und mit uns als Gesellschaft verursacht haben. Und wo das hinführen könnte. Für alle Effekte gibt es sowohl eine utopische als auch eine dystopische Erzählung, und das macht die ganze Sache doppelt kompliziert. Wir fühlen uns unsicher.
Und dann fällt es uns auch noch schwer, diese Effekte wirklich nach den gewohnten wissenschaftlichen Kriterien einzuordnen oder zu belegen. Denn erstens ist unser Beobachtungszeitraum noch sehr kurz, zweitens bräuchte man ja, um wirklich klar sagen zu können, welche