Fragt man differenzierter danach, wodurch sich die Zeitstrukturen der Gegenwart auszeichnen, so lässt sich der Begriff der Beschleunigung als Kulminationspunkt zahlreicher Erfahrungen ausmachen, die das Lebensgefühl der Menschen – zumindest in westlich geprägten Gesellschaften – prägen. Der Eindruck ‚alles wird immer schneller und hektischer‘ wird von vielen geteilt; eine Fülle von feuilletonistischen und populärwissenschaftlichen Beiträgen weist – nicht ohne eine gewisse Aufgeregtheit – auf einen allgegenwärtigen und bedrohlichen Zwang zur Beschleunigung hin und mahnt zur Entschleunigung.161 Auf der anderen Seite gibt es aber auch Stimmen, die eine weitere Beschleunigung einfordern und die Notwendigkeit von Beschleunigungsprozessen (etwa für die Aufrechterhaltung des Wirtschaftswachstums) anmahnen – und schließlich solche, die der Aufgeregtheit der Debatten entgegenwirken und für eine Entdramatisierung in der Bewertung gegenwärtiger Zeitstrukturen plädieren.162
Welche Position soll die Praktische Theologie in diesen Debatten um Be- und Entschleunigung einnehmen? Zwei Positionen verbieten sich gleichermaßen: zum einen eine kulturkritische bzw. -pessimistische Sicht der gegenwärtigen Gesellschaft, die zwischen Welt und Kirche prinzipiell ein oppositionelles, feindliches Verhältnis annimmt; zum anderen eine unkritisch affirmative Sicht auf gegenwärtige Entwicklungen, die für deren Ambivalenzen und Nebenfolgen sowie für die Nöte der Menschen, die mit ihnen leben müssen, keine Sensibilität zeigt, sondern beschwichtigt und beruhigt nach dem Motto: ‚Es wird schon alles nicht so schlimm werden.‘
Hilfreich ist hingegen ein nüchterner Blick auf die Zeit-Phänomene der Gegenwart, der deren Vielfältigkeit und Paradoxalität differenziert wahrnimmt. Einschlägig hierzu sind die Studien des Jenaer Zeit-Soziologen Hartmut Rosa, der von dem Paradoxon ausgeht, dass wir keine Zeit haben, obwohl wir sie ständig und im Überfluss gewinnen: Eigentlich müssten wir angesichts der Fülle von technischen Helfern, die uns unser Leben einfacher und leichter machen sollen, in einem ungeheuren Zeitwohlstand leben.163
1. Das Paradoxon der Beschleunigung
Um dieses Paradoxon aufzulösen, ist nach Rosa die Unterscheidung zwischen verschiedenen Formen der Beschleunigung vonnöten. Es erweist sich nämlich, dass es sich um drei logisch und kausal voneinander unabhängige Prozesse handelt, die zum Teil sogar einander widersprechen. Diese drei Formen der Beschleunigung sind die technische Beschleunigung, die Beschleunigung des sozialen Wandels und die Beschleunigung des Lebenstempos.
Die technische Beschleunigung lässt sich anhand der erhöhten Geschwindigkeiten von Transport (Fußreise bis Raumschiff), Kommunikation (vom Läufer von Marathon bis zum raumlosen Internet) und Produktion (von manufakturieller Fertigung bis zu massenhafter und automatisierter Herstellung von Gütern) demonstrieren. Dass die technische Beschleunigung kein isolierter Prozess ist, zeigt sich bereits daran, dass sie das Verhältnis des Individuums zum Raum, zu den Menschen und zu den Dingen verändert. So ist z. B. durch die Beschleunigung des Transports eine Raumvernichtung bzw. -schrumpfung zu beobachten: Räume werden mental kleiner, je schneller man sie durchqueren kann.
Soziale Beschleunigung lässt sich daran ablesen, dass die Halbwertszeiten von Kleidermoden, Musikstilen, Telefontarifen oder Computerprogrammen immer kürzer werden. Das gleiche Phänomen gilt – in zeitlich größerem Maßstab – etwa für Familien- oder Beschäftigungsstrukturen. Durch diese Steigerung der Verfallsraten von Handlungsorientierungen und Wissensbeständen kommt es zum Eindruck einer Gegenwartsschrumpfung.164 Auf historische Zeiträume bezogen, kann zwischen verschiedenen Tempi des sozialen Wandels unterschieden werden: In der Vor- und Frühmoderne lag der Struktur- und Kulturwandel unterhalb des Tempos des Generationenwechsels (intergenerationales Wandlungstempo), in der „klassischen“ Moderne näherte er sich dem generationalen Wandlungstempo an, und in der Spätmoderne übertrifft sein Tempo die Geschwindigkeit der Generationenfolge (intragenerationales Wandlungstempo). An dieser Stelle wird deutlich, dass Beschleunigung zwar kein Phänomen ist, das erst für die Spätmoderne spezifisch wäre, sondern bereits die Epoche der Moderne als Grundprinzip prägt. Der Wechsel vom generationalen zum intragenerationalen Wandlungstempo zeigt jedoch, dass hier ein kritischer Umschlag auf ein qualitativ neuartiges Beschleunigungstempo stattgefunden hat.
Die Beschleunigung des Lebenstempos schließlich drückt sich darin aus, dass sich die Zahl der Handlungs- und Erlebnisepisoden pro Zeiteinheit erhöht, dass man also mehr Dinge in weniger Zeit erledigen will. Dazu gibt es grundsätzlich drei Möglichkeiten: die Steigerung der Handlungsgeschwindigkeiten, die Verkürzung oder Vermeidung von Pausen oder das Multitasking.
Auf dem Hintergrund dieser Unterscheidungen lässt sich das Paradoxon verstehen, dass wir keine Zeit haben, obwohl wir ständig welche gewinnen: Denn Beschleunigung lässt sich allgemein definieren als eine Mengenzunahme pro Zeiteinheit (oder, äquivalent formuliert, als Zeitersparnis pro Mengeneinheit). Die Beschleunigung des Lebenstempos, die als Verknappung der Zeit erlebt wird, tritt nun nicht wegen, sondern trotz der Zeitgewinne durch die technische Beschleunigung auf. Sie ist die Folge einer Mengensteigerung, die unabhängig von der technischen Beschleunigung ist. Die Zeit wird dann knapper, wenn die Wachstumsrate von Handlungen oder Erlebnissen höher als die Beschleunigungsrate ist. Wenn ich also eine E-Mail in der Hälfte der Zeit schreiben kann, in der ich früher einen Brief geschrieben habe, aber die vierfache Menge an E-Mails zu bearbeiten habe, wird der Zeitgewinn durch den technischen Fortschritt mehr als aufgefressen, und ich leide unter Zeitnot.
2. Der Akzelerationszirkel
Der entscheidende Punkt in Rosas Analyse ist nun, dass die drei beschriebenen, analytisch voneinander unabhängigen Formen der Beschleunigung sich in Wirklichkeit gegenseitig verstärken. Sie bilden einen Akzelerationszirkel, einen sich selbst antreibenden, zirkulären Prozess, dessen Unterbrechung sowohl für das Individuum als auch für Kollektive sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich ist. Auch Entschleunigungstendenzen halten diesen Kreislauf der Beschleunigung nicht auf; sie können ihn im Gegenteil noch weiter verstärken, wenn z. B. Ruhepausen ganz bewusst der Erholung dienen sollen, um anschließend wieder umso mehr leisten zu können.165
Die Erläuterung des Akzelerationszirkels kann an jedem Punkt des Zirkels einsetzen: So führt etwa die Erfahrung, dass alles immer hektischer und kurzlebiger wird und die Zeit knapp ist (Beschleunigung des Lebenstempos), zum Ruf nach Zeitersparnis, etwa durch verbesserte technische Möglichkeiten (Pfeil 1). Die so geforderten technischen Beschleunigungsphänomene führen nun nicht nur zu quantitativen, sondern auch zu qualitativen Veränderungen (Pfeil 2): Beständig ändern sich, zumindest mit angestoßen durch die technischen Neuerungen, auch soziale Praktiken, Kommunikationsformen, Wahrnehmungsmuster, Siedlungsstrukturen etc. Diese sich in der Beschleunigung des sozialen Wandels niederschlagenden Veränderungen müssen wiederum verarbeitet werden (Pfeil 3). Dadurch kommt es zu einer Verkürzung der Stabilität von Zeithorizonten; in immer kürzeren Abschnitten verlieren Sicherheiten ihre Geltung; die Listen des Notwendigen und des Möglichen expandieren; kurz gesagt: Die Zeit wird (als) knapp (erfahren) – womit der Akzelerationszirkel geschlossen wäre.
An welchen Stellen könnte der Akzelerationszirkel aufgebrochen werden? Die durch die Pfeile 2 und 3 angedeuteten gesellschaftlichen Prozesse scheinen gegenüber jeglicher Steuerung immun zu sein; der durch Pfeil 1 angedeutete Prozess scheint zumindest gegenüber individuellen Steuerungsversuchen immun zu sein (z. B. ist – zumindest innerhalb gesellschaftlich prägender Schichten – die Nicht-Erreichbarkeit ein Luxus, den sich tendenziell nur noch wenige leisten können). Erschwerend kommen noch externe Motoren des Akzelerationszirkels hinzu: Auf die technische Beschleunigung wirkt der ökonomische Motor des kapitalistischen Wirtschaftssystems („Zeit ist Geld“, mit den bekannten Folgen der Entkopplung von Arbeit und Alltag und, in der Spätmoderne, der Gegenbewegung einer neuerlichen Entdifferenzierung von beiden), auf die Beschleunigung des sozialen Wandels der sozialstrukturelle Motor der funktionalen Differenzierung und