Menschen erfahren die kontingente Tragik des Alltags, weil sie täglich Entscheidungen treffen müssen, ohne Entscheidungssicherheit aufgrund von Handlungskriterien besitzen zu können. Hierdurch entstehen im positiven Falle kreative Konstellationen religiöser, sozialer und politischer Kriterien und Meinungen, die neue, bisher noch unerkannte Handlungsmöglichkeiten eröffnen. Im negativen Fall scheitern Menschen an dieser Herausforderung der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten, wenn diese Wahlfreiheiten als Überforderung und Zwang erfahren werden.
2.2 Mesoniveau
Die Prägung von neuen Zielen, Handlungen und Meinungen im privaten und öffentlichen Raum schafft sowohl neue Möglichkeiten als auch Probleme im institutionellen Bereich einer Gesellschaft. Der Einflussnahme und der Verantwortung für das Gemeinwohl sowie der Gestaltung der gesellschaftlichen Zukunft steht die Schwierigkeit gegenüber, einen gesellschaftlichen Konsens in politischen Kernfragen (wie zum Beispiel Bildung, Ökonomie und Ökologie) finden zu müssen.
Technische, kulturelle und ökonomische Entwicklungen und Projekte werden auf der einen Seite als gesellschaftlicher Fortschritt und als Absicherung des Fortbestand des Wohlstands beschrieben und auf der anderen Seite als intransparente Steigerung der menschlichen Machtgier und des Totalitätsanspruchs erfahren. Hier stellt sich die Frage, ob diese Entwicklungen und Projekte im Trend moderner Kontingenzsteigerung überhaupt noch einen Beitrag zur Kontingenzreduktion leisten können, weil diese von Teilen der Bevölkerung nicht mehr getragen wird. Immer mehr Menschen verweigern sich einer totalitären Kontingenzsteigerung, weil sie die zugrunde gelegten Argumente ablehnen.
2.3 Makroniveau
Das Bewusstsein für eine Kontingenzsteigerung auf Makroniveau ist in den letzten Jahren deutlich angestiegen. Als Reaktionen auf Wirtschaftskrise, atomaren GAU, Klimaerwärmung und verschiedene militärische Krisenherde nehmen Menschen ihre Verantwortung für Solidarität, Frieden und Gerechtigkeit sowie für die Wahrung sozialer und natürlicher Ressourcen auf der Erde in der Öffentlichkeit wahr. Der gesellschaftliche und weltpolitische Konflikt entsteht aus der kontingenten Tragik, einerseits die Notwendigkeit zu sehen, sich für eigene Machtansprüche, Wirtschaftsinteressen und ethische und politische Grundprinzipien einsetzen zu müssen (Öl, Wirtschaftskrise, Menschenrechte etc.), und andererseits die Unmöglichkeit zu akzeptieren, sich für diesen notwendigen Einsatz nicht ohne Waffengewalt in anderen Ländern engagieren zu können. Der atomare GAU 2011 in Japan zeigte sogar die Notwendigkeit auf, der schrecklichen Möglichkeit der Erwartung entgegentreten zu müssen, dass es jenseits kontingenten menschlichen Handelns (zukünftige Energieerzeugung mit Kernenergie) keinen kontingenten Handlungsbereich menschlichen Denkens und Handelns mehr geben kann.
Nimmt man das Kontingenztheorem ernst, kann ihre spätmoderne Ausprägung nicht vor dem Wissenschaftsbetrieb Halt machen. Kontingenz als Handlungs- und Zufallsbereich muss auch epistemologisch als fester Bestandteil jeder wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit menschlichem Handeln fungieren. Jede wissenschaftliche Abhandlung sollte in einem selbstreflexiven Teil die Brüchigkeit und Perspektivität des eigenen Ansatzes und Blickwinkels berücksichtigen.
3. Religion als Arbeit an der Unverfügbarkeit
Religion, die in der Vergangenheit oft zur Stabilisierung des Status quo und damit zur Kontingenzsteigerung herangezogen worden ist, kann in der Kontingenzorientierung im Alltag einen wichtigen Beitrag leisten. Sie bietet eine Ordnungsstruktur, die helfen kann, kontingente Ereignisse in die eigene Lebensgeschichte zu integrieren und damit rekonstruieren und verstehen zu können. Diese Ordnungsstruktur muss selbstreflexiv die eigene Kontingenz im Auge behalten und bietet die Möglichkeit, Erfahrungen der Selbsttranszendenz zu machen, in denen der Mensch über die Grenzen des eigenen Selbst hinausgehen kann, wodurch eine Lockerung oder Befreiung von der Fixierung auf sich selbst möglich ist.360 Religion bietet die Möglichkeit der Wahrnehmung menschlicher Möglichkeiten und Grenzen unter Berücksichtigung der Kontingenz menschlicher Wahrnehmung und der Interpretation dieser Möglichkeiten und Grenzen. Ingolf U. Dalferth und Philipp Stoellger bezeichnen darum Religion als „die symbolisch prägnante und erfahrene Kunst der Kultivierung dieser Unverfügbarkeit. ‚Arbeit am Unverfügbaren‘ als ‚Arbeit an der Unverfügbarkeit‘ wäre eine passende Umschreibung der Religion wie auch einer ihr entsprechenden Hermeneutik.“361 Es muss darum gehen, das Unverfügbare zu bearbeiten, ohne das Unverfügbare kontrollieren oder gar verfügbar machen zu wollen. Die Pointe dieses Ansatzes gibt Menschen die Möglichkeit, unter Berücksichtigung menschlicher Begrenztheit und Endlichkeit ihre eigene Kreativität und Handlungsmöglichkeiten in den Blick zu nehmen. Religion bietet ihnen die Möglichkeit, als Individuum in Gemeinschaft die eigenen Unzulänglichkeiten als Chance und Gestaltungsmöglichkeit zu erkennen, ohne hierbei Allmachtsphantasien bemühen zu müssen. Das ist nur möglich, wenn die Religion und ihre Heilsbotschaft die eigenen kontingenten Merkmale durch eine metaphysische Überhöhung nicht zu reduzieren oder zu verdrängen versucht. Mit Henning Luther kann es „gerade nicht darum gehen, der Kontingenzerfahrung den Stachel des Unvertrauten zu nehmen und zu versuchen, sie mit dem bisherigen gewohnten Verstehensmuster zu versöhnen und zu vereinbaren.“362
Praktische Theologie kann als Theorie des religiös-kommunikativen Handelns363 aus der Perspektive der jüdisch-christlichen Tradition einen Beitrag zur Entwicklung einer Kontingenzkultur leisten, die als Wahrnehmungs-, Deutungs- und Gestaltungskunst verstanden werden kann.364 Die Frage ist, ob praktischtheologische Ansätze nicht den Fehler begehen, die Kontingenzproblematik metaphysisch zu lösen und damit zu beseitigen, oder aber die menschliche Ambivalenz des Kontingenten im Alltag zu negieren und damit die potentiellen Möglichkeiten nicht zu nutzen. Religion als Mittel der stabilisierenden Kontingenzverarbeitung oder Kontingenzverdrängung wird weder der Religion selbst noch der Bedeutung der Kontingenzerfahrung für den Menschen gerecht.365 Vielmehr wäre es vonnöten, auf die inhaltliche Dimension der Kontingenzproblematik im Rahmen eines praktisch-theologischen Ansatzes einzugehen. Das setzt eine Normalisierung und Entdramatisierung von Grenzerfahrungen voraus, wie sie Luther gefordert hat.366 Ein praktisch-theologischer Ansatz, der Grenzsituationen von der Mitte des Lebens her reflektiert, stellt die Unzulänglichkeiten dieses Lebens in den Mittelpunkt und betrachtet sie als Potentiale noch zu entfaltender Möglichkeiten, weil die Freisetzung transzendierender Motive Grenzen und Anderssein voraussetzt.367 Nur so kann die Selbstverständlichkeit des Alltags unterbrochen und Andersmöglichkeit bejaht werden.
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