3. Ausgegrenzte Erkenntnissubjekte
Der öffentliche Diskurs in der Spätmoderne ist von einem grundlegenden Widerspruch gekennzeichnet. Einerseits gilt die Tatsache, dass Menschen, Gruppen und ganze Staaten vom Zugang zu lebenswichtigen Ressourcen, Handlungsund Entwicklungsmöglichkeiten ausgeschlossen bleiben, als inakzeptabel. Andererseits wird der Erfahrung und den Erkenntnissen dieser Menschen, Gruppen oder Staaten bei der Analyse der Problemlagen und bei der Suche nach Lösungen keine Bedeutung beigemessen. Sie werden als Opfer ohne eigene Analyse und Initiative dargestellt. Oft wird ihnen diese „Opferhaltung“ zum Vorwurf gemacht oder gar zur Ursache ihrer anhaltenden Ausgrenzung erklärt.
Armut verbunden mit sozialem Ausschluss verletzt die Menschenrechte und ist Gewalt an Personen. Das Wissen der Allerärmsten ist unentbehrlich, um diese Gewaltsituationen zu überwinden. Allerdings werden Menschen, welche durch den negativen Blick, der auf ihnen lastet, geprägt sind, ihr Wissen und ihre Ansichten nicht ohne weiteres preisgeben: „We know where, with whom and when we can talk.“210 Eine rein deskriptive Forschung, die nicht vom Streben nach einem Leben in Würde ausgeht, hat für sie keinen Sinn und ist auch ethisch nicht zu vertreten. Erkenntnisgewinn ist nur im Rahmen einer verbindlichen Beziehung möglich. Das Eingehen einer solchen verändert bereits die Situation und eröffnet neue Handlungsmöglichkeiten. Es verändert auch die Position des Forschers bzw. der Forscherin.
„To break the silence it is necessary to recognize the knowledge possessed by those who have had silence imposed on them, to have the will to merge it with the knowledge generated by universities, NGOs and institutions in general, and in the process to create new knowledge that will transform institutional practice and the lives of the people in extreme poverty.“211
Methoden der Aktionsforschung, wie sie z. B. in der Erziehungswissenschaft oder in der Organisationssoziologie angewandt werden, beruhen auf einer Partnerschaft zwischen Forschenden und Akteuren im Forschungsfeld. Der Erkenntnisgewinn geht dabei mit der Veränderung einer als unbefriedigend empfundenen Situation einher.212 In dieser Linie wurde im Rahmen der internationalen Bewegung ATD Vierte Welt der Ansatz des Wissenverflechtens (croisement des savoirs, merging of knowledge) entwickelt. Er ermöglicht durch Armut ausgeschlossenen Menschen, ihr aus der Erfahrung und dem täglichen Kampf gewonnenes Wissen gemeinsam zu konstruieren und es mit Wissen aus anderen Erkenntnisquellen (wissenschaftliche Forschung, institutionelle Praxis) zu konfrontieren, um gemeinsam zu neuen Erkenntnissen zu gelangen.213
Die Überwindung sozialer Ausschließung verlangt einen nachhaltigen Lernprozess214, in dessen Verlauf die ausschließenden Institutionen ihre Zuständigkeit für die betreffenden Personen anerkennen. Sie nehmen diese nicht länger nur als Arme oder als Problemfälle wahr, sondern als Mitbürger, Schüler, Pfarreiangehörige oder Internetnutzer, auf deren Wissen sie angewiesen sind, um ihrem Auftrag für alle gerecht zu werden. Ein Merkmal gelungener Transformation ist, dass die Ausgrenzung eines Bevölkerungsteils als Widerspruch zu den Werten und Zielen der betreffenden Institution thematisiert wird und dass diese eine politische Beziehung mit den Ausgeschlossenen eingeht, um die eigenen Werte und Ziele neu zu verstehen und gemeinsam zu realisieren.215
4. Theologische Erkenntnis im Spannungsfeld von Inklusion und Exklusion
Praktische Theologie hat sich Rechenschaft darüber zu geben, welche Dichotomie von innen und außen (z. B. Kirche und Welt, die Gemeinde und die Armen, religiös und säkular) sie jeweils verwendet und wie sie die Beziehung zwischen beiden Bereichen konstruiert. Welche Phänomene passen in das Wahrnehmungsraster des Praktischen Theologen / der Praktischen Theologin und welche fallen hindurch? Welche Personen und Gruppen kommen als Erkenntnis- und Forschungssubjekte in Betracht und welche werden ausgeschlossen? Inwiefern fördert oder behindert ein Forschungsprojekt diese verschiedenen Subjekte in ihrem eigenen Verständnis der Situation und in ihren Handlungsmöglichkeiten?216
Eine Praktische Theologie, die auf das Leben aller Menschen entsprechend ihrer Würde vor Gott ausgerichtet ist, hat sich vorrangig an denjenigen auszurichten, deren Würde und Lebensmöglichkeiten am meisten unterdrückt sind. Eine Praxis, welche die Partnerschaft mit den Ärmsten zur Grundlage politischen und bürgerschaftlichen Handelns macht, kann gleichzeitig als konsequente Umsetzung der Ideale der Moderne verstanden werden: Mündigkeit, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Menschenrechte und Demokratie.217 Sie bedeutet allerdings einen Bruch mit einer exklusiven Konzeption dieser Ideale. Im Unterschied zu Ansätzen, die zwar den Kreis der mündigen Bürger in einem permanenten Kampf um Anerkennung (Axel Honneth) nach und nach ausweiten, aber bei der Konstituierung der neuen politischen Subjekte (Dritter Stand, Arbeiterklasse, Frauen218, ehemals kolonisierte Völker) einen „menschlichen Abfall“ in Kauf nehmen (die Passivbürger bei Emanuel Joseph Sieyès, das Lumpenproletariat bei Karl Marx), macht diese Praxis den Ärmsten zum Garanten der Universalität dieser Ideale und betrachtet seinen Beitrag als unerlässlich, um diese zu konkretisieren. „Wo immer Menschen dazu verurteilt sind, im Elend zu leben, werden die Menschenrechte verletzt. Sich mit vereinten Kräften für ihre Achtung einzusetzen ist heilige Pflicht“219, diese von Wresinski formulierte Devise weist über die Dichotomie von Inklusion und Exklusion hinaus. Sie sucht Einigung nicht durch Abgrenzung nach außen, sondern durch das Eingehen einer politischen Beziehung mit denjenigen Menschen, denen unter den herrschenden Bedingungen ein Leben in Würde nach anerkannten Normen verwehrt ist. Christliche und kirchliche Praxis hat sich an diesem Anspruch zu messen.
Wenn die Erfahrungen, Fragen und Erkenntnisse von Menschen, die unter den Bedingungen der Spätmoderne vom Zugang zu den Grundrechten ausgeschlossen sind, nicht in die praktisch-theologische Reflexion einfließen können, dann beraubt sich die Theologie einer zentralen Erkenntnisquelle. Sie läuft damit Gefahr, sich „über das Wesen Gottes selbst“ zu täuschen.220 Die Nutzung dieser Quelle in Lehre und Forschung darf nicht vom Zufall oder vom guten Willen Einzelner abhängig sein, sondern muss in den verschiedenen Räumen theologischer Reflexion institutionell verankert werden. Zusammen mit Gruppen und Organisationen, bei denen arme, sozial ausgeschlossene Personen sich beteiligen und äußern, können Räume geschaffen werden, um Fragen im Zusammenhang mit Sinn, mit religiöser Praxis und mit Zugehörigkeit gemeinsam zu formulieren und zu vertiefen.
Ein langfristiger Ansatz ist eine unabdingbare Voraussetzung für eine Partnerschaft mit den Ärmsten. Es ist sinnvoll, wenn Praktische Theologen und Theologinnen zeitweilig oder dauerhaft ihren institutionellen Rahmen verlassen, um in der Begegnung, im Zusammenleben und im gemeinsamen Handeln mit armen und ausgeschlossenen Personen und Bevölkerungen ihren Beruf neu zu lernen.
Gender und Intersektionalität
Andrea Qualbrink / Renate Wieser
Das Zweite Vatikanische Konzil streicht in seiner Betonung der menschlichen Gleichheit deutlich die Notwendigkeit der Ablehnung jeglicher Art von Diskriminierung hervor:
„Da alle Menschen eine geistige Seele haben und nach Gottes Bild geschaffen sind, da sie dieselbe Natur und denselben Ursprung haben, da sie, als von Christus Erlöste, sich derselben göttlichen Berufung und Bestimmung erfreuen, darum muss die grundlegende Gleichheit aller Menschen immer mehr zur Anerkennung gebracht werden. […] Jede Form einer Diskriminierung in den gesellschaftlichen und kulturellen Grundrechten der Person, sei es wegen des Geschlechts oder der Rasse, der Farbe, der gesellschaftlichen Stellung, der Sprache oder der Religion muss überwunden und beseitigt werden, da sie dem Plan Gottes widerspricht.“221
Drei Formen der Diskriminierung erfahren dabei unter Papst Johannes XXIII. eine besondere Hervorhebung. In seiner Enzyklika Pacem in terris benennt er sie als die drei Merkmale der Gegenwart, die als „Zeichen der Zeit“ wahrzunehmen sind, nämlich die Arbeiterfrage, die Frauenfrage und die Freiheitsbestrebungen der ehemaligen kolonialen Völker.222