„Alle soziologischen Elemente werden aus dem juristischen Begriff ferngelassen, damit in unverfälschter Reinheit ein System von Zurechnungen auf […] eine letzte einheitliche Grundnorm gewonnen wird. […] Die Einheit der Rechtsordnung […], das heißt der Staat, bleibt im Rahmen des Juristischen von allem Soziologischen ‚rein’. […] Einheit und Reinheit sind aber leicht gewonnen, wenn man […] alles, was sich der Systematik widersetzt, als unrein ausscheidet. Wer sich auf nichts einlässt […], hat es leicht, zu kritisieren.“69
Generell gilt vor diesem Horizont: Der universale Widerstreit der Spätmoderne hat kein Außen. Sich für die Universalität der Menschenrechte einzusetzen, ist in diesem Widerstreit ohne Schlichtungsinstanz nur ein Geltungsanspruch unter vielen – wenn auch eine unbedingt anzustrebender. Inmitten des globalen Widerstreits gilt es zumindest, die „leere Mitte“70 einer offenen Gesellschaft freizuhalten: „Eine Gesellschaft, die sich nicht einschüchtern lässt, die Opfer aushält und ihr offenes Leben weiterlebt, ist vom Terror nicht zu besiegen.“71 Angesichts des 11. September 2001 lautet die Frage an den Westen: „Haben wir auf dem gleichen vitalen Niveau der Hingabe etwas anderes entgegenzusetzen?“72 Das entsprechende Zeugnis einer offenen Gesellschaft für die Würde des Menschen ist man zumindest den Opfern der Shoa, der zentralen Katastrophe der Moderne, schuldig. Noch einmal Celan:
„Tief
in der Zeitenschrunde
beim
Wabeneis
wartet, ein Atemkristall,
dein unumstößliches
Zeugnis.“73
Rainer Bucher hatte zu Beginn der theologischen Debatte um die Postmoderne vorgeschlagen, diesen Begriff im Sinne einer „gegenwartsanalytischen Kategorie“74 vor allem soziologisch zu verwenden. Die Spätmoderne wäre dann vor allem ein Produkt funktionaler Differenzierungsprozesse der Moderne, die zu einer Individualisierung der Lebensstile und zu einer Pluralisierung der Weltbilder führten. Das ist durchaus richtig, wird aber der skizzierten Herausforderung wohl nicht ganz gerecht. Es stellt sich die Frage: „Welche Philosophie braucht die Pastoraltheologie?“75 Betrachtet man die großen philosophischen Schulen der Gegenwart in ihrem Bezug zu entsprechenden Zeichen der Zeit, so lässt sich das Denken spätmoderner Franzosen als eine „von prägnanten Zeichen signierte“76 Philosophie identifizieren, die Frankfurter Schule mit ihren Sozialutopien herrschaftsfreier Kommunikation als eine „von diffusen Zeichen signierte“77 und die Analytische Philosophie mit ihren historisch kaum affizierten sprachlogischen Schlussverfahren als eine „asignierte“78 Philosophie. Das letztere Denkformat ist nur durch massive Abblendungen möglich:
„Es geht um eine andere Art von Analyse des Diskurses als Strategie, als sie die Angelsachsen […] betreiben. Mir kommt […] ein wenig begrenzt vor, dass sich diese Analysen […] in einem Oxforder Salon bei einer Tasse Tee entfalten – strategische Spiele betreffend, die zwar interessant sind, aber mir zutiefst begrenzt vorkommen. Es stellt sich das Problem, herauszufinden, ob wir die Strategie des Diskurses nicht in einem ungleich realeren historischen Kontext […] von Praktiken studieren können, die von einer anderen Art sind als diese Salongespräche.“79
Eine philosophisch orientierte theologische Rezeption der Spätmoderne findet ihre gegenwartsanalytisch stärksten Gesprächspartner daher auch unter Autoren der französischen Gegenwartstheorie, deren größte Gemeinsamkeit in ihrer Ablehnung des Diskurslabels ‚postmodern‘ besteht: Emmanuel Lévinas80, Jacques Derrida81, Jean-François Lyotard82, Georges Bataille83, Gilles Deleuze84 und Michel Foucault.85 Parallel zu diesen autorenbezogenen Pionierdiskursen86 erschienen sowohl fachtheologisch87 als auch kirchenpastoral88 ausgerichtete Sammelbände zur Postmoderne bzw. Nach-Postmoderne89 sowie auch erste Monographien90 zur Gesamtthematik. Inzwischen wird an verschiedenen Orten die Theologie als Ganze spätmodern rekonstruiert – zum Beispiel an der Universität Salzburg, wo der Dogmatiker Hans-Joachim Sander eine „Semiotik der Differenz“91 und der Fundamentaltheologe Gregor M. Hoff „theologische Inversionen“92 betreiben. International wären vor allem zwei Vordenker einer ‚schwachen Theologie‘ der Spätmoderne zu nennen, deren einschlägige Hauptwerke wohl nicht gerade zufällig an Gianni Vattimos pensiero debole erinnern: Michel de Certeau mit La faiblesse de croire93 und John Caputo mit The weakness of God.94
3. Zeichen der Zeit
Die in diesem Band vorgelegten Signaturtexte zur Spätmoderne bearbeiten, konzilstheologisch betrachtet, exemplarische „Zeichen der Zeit“ (GS 4).95 Mit der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanums verweisen sie auf einen lehramtlich höchstrangigen offenbarungstheologischen Begründungsort96 für die Notwendigkeit einer gegenwartstauglichen Pastoraltheologie:
„Unter quantitativer Hinsicht haben die Zeichen der Zeit […] [in GS, Ch. B.] marginale Bedeutung. Aber das quantitative Resultat ihrer Verwendung ist kein Zeichen für die systematische Bedeutung des Begriffs. Die dogmatische Bedeutung der Zeichen der Zeit ist struktureller Natur; sie prägen die Logik der Argumentation, nicht das einzelne Argument. Der Text weist nicht fortlaufend auf die Zeichen der Zeit hin; aber er ist von ihr im Ansatz bestimmt.“97
Gaudium et spes ermöglicht eine Anerkennung von Zeichen der Zeit als „theologische Orte“98, von denen her Gott in der heutigen Welt zur Sprache gebracht werden kann – und zwar im klassischen Sinn von Melchior Canos loci theologici. Diese stellen Autoritäten des Diskurses („topoi“) dar, von denen her ein theologisches Argument starkgemacht werden kann. Allgemeinplätze im besten Sinn des Wortes: allgemein anerkannte Orte, auf die sich möglichst viele Menschen beziehen können.
Die Pastoralkonstitution benennt einen ganzen Plural solcher Orte: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute“ (GS 1). Aber nicht nur die Eröffnungsfanfare von Gaudium et spes ist von der theologischen Bedeutung dieser Zeichen geprägt, sondern auch die Anfänge der anderen Hauptteile der Pastoralkonstitution. Die in diesem Kontext meistens zitierte Stelle am Beginn der Expositio introductiva folgt dem aus der wallonischen Arbeiterpastoral stammenden theologischen Dreischritt Sehen – Urteilen – Handeln: „Es ist die Pflicht der Kirche, die Zeichen der Zeit zu unterscheiden [Sehen, Ch. B.] und sie im Licht des Evangeliums zu deuten [Urteilen, Ch. B.], so dass sie […] auf die Fragen der Menschen nach dem Sinn […] des Lebens […] antworten kann [Handeln, Ch. B.]“ (GS 4). Eine diskursive Einbahnstraße: Die Menschen fragen und die Kirche antwortet. Anders eine konzilstheologisch gewichtigere Stelle zu Beginn der Prima pars, wo die Zeitsignatur einen Offenbarungsort bildet, den es von allen Beteiligten in gemeinsamer Suche zu entdecken gilt:
„Im Glauben daran, daß es vom Geist des Herrn geführt wird, der den Erdkreis [und nicht nur: die Kirche, Ch. B.] erfüllt, bemüht sich das Volk Gottes, in den Ereignissen, Bedürfnissen und Wünschen, an denen es zusammen mit den übrigen Menschen unserer Zeit Anteil hat, zu unterscheiden, was darin wahre Zeichen der Präsenz […] Gottes sind.“ (GS 11).
Diese fortschreitende Präzisierung99 des theologischen Arguments setzt sich im Beginn der Secunda pars fort:
„Nachdem das Konzil dargelegt hat, von welcher Würde die Person des Menschen und zu welcher Aufgabe sie […] gerufen ist, wendet es nun die Herzen aller im Licht des Evangeliums und der menschlichen Erfahrungen [und nicht nur wie in GS 4: des Evangeliums, Ch. B.] einigen bedrängenderen Notwendigkeiten zu, die das Menschengeschlecht in höchstem Maße betreffen.“100 (GS 46).
Hier wird GS 4 auf der argumentativen Höhe von GS 11 weitergeführt. Es gilt