Wolfgang Frank übt mit den Mainzern Anfang 1996 die Raumdeckung, das Verschieben, das Pressing. Dann spielen die Mainzer eine grandiose Rückrunde, nicht weil die Spieler plötzlich so gut sind, oder wenigstens nicht nur, sondern auch, weil der Trainer eine Idee hat, und keiner in der Liga hat eine Antwort. Heute spielen alle mit der Viererkette, das damals war der Anfang, holprig, und vom Rand des Fußballs aus. Das Establishment wartet ab und zieht später nach. Frank krempelt alles um, ist enorm ehrgeizig.
In der Winterpause der nächsten Saison überzieht er. In dieser Phase kommt ihm das Gespür für die Bedürfnisse der Mannschaft abhanden, er lässt zu viel trainieren. Mainz verliert die ersten beiden Rückrundenspiele. Frank, mit einer Konsequenz, die etwas Schmerzhaftes hat, schmeißt hin. Klopp lernt bei Frank, wie es geht, und lernt, wie es nicht geht.
Reinhard Saftig
Nun hat Heidel ein Problem, das er in den nächsten Jahren immer haben wird, wenn er einen Trainer entlässt. Wo ist ein Coach, der ballorientiert spielen lässt: Viererkette, 4-4-2, offensiv, Pressing – denn das wollen er und die Spieler nie mehr hergeben. Wo ist dieser Coach? »Deutschland hatte damals kein Nachwuchsproblem, kein Problem mit jungen Spielern, wie alle behauptet haben, sondern ein Trainerproblem«, sagt Heidel. Er hat ein Trainerproblem.
Er braucht für die Mannschaft, die Frank hinterhertrauert und sein System weiterspielen will, den richtigen Trainer – und fürs Umfeld einen großen Namen. Auch, um den bösen Satz des ambitionierten Frank zu entkräften: »Die Mainzer wollen ja gar nicht aufsteigen.« Er holt Reinhard Saftig, damals 45 Jahre alt, der für ein paar Monate die Münchener Bayern, dann unter anderem Borussia Dortmund, auch Bayer Leverkusen, und zuletzt Galatasaray Istanbul gecoacht hat.
Heidel macht eine irritierende Erfahrung. Er sagt den Trainerkandidaten, die nicht so Schlange stehen wie das heute der Fall wäre, ganz deutlich, was er von ihnen will. Und die Trainer sagen, dass sie das auch wollen: Ballorientiert spielen, verschieben, im Raum verteidigen, 4-4-2, offensiv spielen, pressen – aber dann machen sie etwas anderes. Nicht, weil sie nicht wollen, sondern weil sie es nicht können, und das nicht zugeben, weil sie den Job bei Mainz wollen. »Heute«, sagt Heidel, »hat Mainz als Verein eine Idee, eine Spielidee, wir geben dem Trainer ein Konzept vor, das er erfüllen muss.« Im Rahmen des Konzepts hat der Trainer alle Freiheiten, einen Trainer, der mit Libero spielen will, wird es in Mainz, solange das Wasser von Main und Rhein nicht den Berg hochfließt, nicht geben.
Schattenkabinett
Mannschaftssitzung vor einem Spiel gegen Rot-Weiss Essen, Reinhard Saftig erklärt die Taktik, Grundordnung: Dreierkette. Nichts mehr von Franks System, altbackener Fußball. Nach der Sitzung kommt der Spieler Klopp zu Heidel ins Büro, er ist ein wenig aufgebracht, der Spieler Klopp. Und nun wird es konspirativ: »Sollen wir spielen wie immer, oder wie der Saftig es will?«, fragt Klopp den Manager. Heidel überlegt nicht lange, die Konsequenzen ahnend: »Spielt so wie immer.« Also die Frank-Taktik, Viererkette, das, worauf er Saftig in den Gesprächen, bevor der neue Mann einen Vertrag bekam, verpflichtet hatte. Mainz gewinnt, Saftig wird gefeiert, es entsteht, was Heidel »das Schattenkabinett« nennt. Auf Dauer geht das nicht, Heidel wird das immer klarer.
»An dem Tisch«, sagt Heidel in seinem Büro und klopft vehement auf den Tisch, auf dem unsere Kaffeetassen hüpfen, habe er mit Klopp, dem Spieler, gesessen und über die Taktik gesprochen, mit der Mainz spielen muss, trotz Trainer. »Wir machen das so, und wir machen das so«, erklärt ihm der Klopp. Und der Saftig ist nur die Außendarstellung. Doch irgendwann setzt sich Saftig gegen den in Klopp personifizierten Widerstand der Mannschaft durch und macht ein paar Fehler, die von den Spielern nicht korrigiert werden können. Mainz wird Vierter, der VfL Wolfsburg, noch ohne VW im Kreuz – manchmal auch im Nacken – steigt auf. Es ist der erste der ominösen vierten Mainzer Plätze.
In der nächsten Saison muss Saftig gehen, der Österreicher Dietmar Constantini kommt. Er war unter seinem Mentor Ernst Happel Co-Trainer der österreichischen Fußball-Nationalmannschaft. Mit Constantini spielt Mainz häufig unentschieden und mit Libero. Nach einer 1:3-Niederlage zu Hause gegen die SG Wattenscheid, der Abstand zu den Stuttgarter Kickers, die 15. sind, beträgt nur noch einen Punkt, tritt Constantini zurück: »Euch kann in dieser verdammt schwierigen Situation nur noch einer helfen, und das ist Wolfgang Frank«, sagt Constantini, und man sieht diesem Satz Franks Schatten an.
Frank II
Wolfgang Frank, wenige Tage zuvor noch bei Austria Wien unter Vertrag, kommt nach Mainz zurück. Zum Auswärtsspiel bei den Stuttgarter Kickers, dem ersten unter Rückkehrer Frank, fahren 1.200 Mainzer Fans mit, sie rufen: »Messias, Messias.« Manche Spieler empfinden ähnlich, da schwingt etwas von dem mit, was in den Mainzer Dom gehört, aber nicht ins Fußballstadion. Gegen die Kickers gewinnt Mainz mit 2:1, ohne Libero, Jürgen Kramny spielt wieder im Mittelfeld, die Tore machen Steffen Herzberger und Sven Demandt. Mit Frank wird Mainz in der Saison 1997/98 Zehnter, im Jahr darauf Siebter.
Im April 2000, nach einer 0:1-Niederlage gegen den 1.FC Köln, als Frank, mit Vertrag bis 2001 bei Mainz, offen über einen vorzeitigen Wechsel zum MSV Duisburg verhandelt, muss er in Mainz gehen. Daraufhin spricht Frank zwei Jahre kein Wort mit Heidel. Unter seinem Assistenten Dirk Karkuth schaffen die in Abstiegsgefahr schwebenden Mainzer den Klassenerhalt. Karkuth ist keine Dauerlösung, die soll René Vandereycken sein, doch der bringt einen Libero mit.
»Unsere Mannschaft war von Frank taktisch hervorragend ausgebildet, die Trainer, die sie nach ihm hatte, waren es nicht«, sagt Heidel, »die Mannschaft war taktisch besser als ihre Trainer.« Und mit den neuen Spielern gab es Probleme, weil die alten das System drauf hatten, die neuen es aber nicht lernten, weil es die Trainer ihnen nicht beibringen konnten.
Vandereycken legt sich mit den erfahrenen Spielern an, Klopp ist nicht mehr im Kader. Am 11. November, zwölfter Spieltag, eine 0:2-Heimniederlage gegen Hannover 96 mit Roter Karte für Torwart Dimo Wache, hat Mainz zwölf Punkte. Vandereycken, von 2006 bis 2009 Nationaltrainer seiner belgischen Heimat, wird entlassen. Mainz liegt auf dem 15. Tabellenplatz. Das waren keine Pfeifen, die Trainer in Mainz, aber die Ansprüche der 05er waren hoch. Mit der Mannschaft war nur durch ein Spielsystem, mit dem die individuellen Schwächen aufgefangen wurden, etwas zu gewinnen.
Ufz Krautzun
Vandereyckens Nachfolger heißt Eckhard Krautzun. Er hat das geschickt eingefädelt, indem er bei Klopp anruft. Einfach nur so, wie er Klopp versichert. Dass er Trainer in Mainz werden will, verschweigt er. Krautzun fragt und Klopp erklärt ihm, was in der Mannschaft nicht läuft und warum es nicht läuft und was man tun muss, damit sich das ändert. Beim Gespräch mit den Verantwortlichen des FSV Mainz glänzt Krautzun mit Insiderwissen, er kann erklären, wie es mit der Viererkette geht, von der er nur das weiß, was Klopp ihm am Telefon erklärt hat. Er bekommt den Job. »Wir wussten nichts von diesem Gespräch zwischen Krautzun und Kloppo«, sagt Heidel.
Der in der Welt herumgekommene Trainer hat einen unglücklichen Start, indem er sich auf der Pressekonferenz mit dem Satz: »Ich freue mich, in der Pfalz und am Bruchsee zu arbeiten« gleich ins rheinhessische Abseits stellt.
Dem FSV droht derweil der Abstieg. Unter Krautzun, Jahrgang 1941, dessen Vokabular von den Erfahrungen der Kriegsgeneration geprägt ist, wird gegen den FC St. Pauli ein Punkt geholt, und gegen Nürnberg gewonnen, dann folgen sieben Spiele mit nur zwei Punkten. »Kein Schlachtenglück«, schnarrt Krautzun.
Ende Januar 2001 folgt ein