Heimweh
Die Arbeit schiebt die Menschen durch die Welt. Und der Fußball ist ein großer Schieber. Manche wechseln den Kontinent, andere die Kultur, vielleicht muss man ja von Glück reden, wenn man im Land bleiben kann, auch wenn die Strecke von Dortmund nach Glatten »ab Pforzheim auf der Bundesstraße echt lästig wird, wenn man den Falschen vor sich hat«, sagt Klopp.
In Stuttgart, auf dem lädierten Hauptbahnhof, gibt es einen elektronischen Gimmick. Da ist zu sehen, wie das Wetter in Deutschland ist. Die wissen, warum sie das hier aufstellen. Über Baden-Württemberg scheint an dem Tag, an dem ich zurückfahre, die Sonne. Über dem Norden – Wolken. Wie an dem Tag, an dem ich gekommen bin. Ich frage mich, warum ich zurückfahre, obwohl ich weiß, dass ich es auch nicht aushielte, hierzubleiben.
Im ICE liegen diese Magazine der Deutschen Bahn auf den Tischen. Von denen guckt Joachim Löw. Auch ein Schwarzwälder, auch weggegangen. Am besten, ich schreibe einen Text über Heimweh. Heimweh muss man, wenn man weggegangen ist, haben. Um von der Heimat wenigstens das Weh zu behalten, darf man nicht zurückkommen.
Im Jahr 1983 schloss sich Jürgen Klopp dem TuS Ergenzingen an, der Ort liegt zwischen Horb und Rottenburg im »Gäu« – wie der Schwabe sagt. Die Jugendarbeit der TuS galt als vorbildlich. Klopp überzeugte und wies sogar einen späteren Weltmeister in die Schranken. Sein früherer Jugendtrainer Walter Baur, im Frühjahr 2012 im Alter von erst 62 Jahren verstorben, berichtete im Jahr zuvor von einigen Anekdoten über den jungen Fußballer Jürgen Klopp.
von Saban Uzun
Keiner nannte ihn Norbert
Hier wohnt ein Fußballverrückter. Vom Balkon wehen die brasilianische und die deutsche Flagge. Die brasilianischen Farben sind für einen Nachwuchsspieler, der unter dem Dach wohnt. Im Garten liegen Fußbälle, im Büro brennt Licht. An der Tür steht »Baur«. Die Tür geht auf, es riecht nach Fußball. Auf dem Boden liegt eine Taktiktafel, im Regal Bücher, alle über Fußball: WM ’74, modernes Verteidigen und Konditionstraining. Trikots hängen an der Wand, auf dem Schreibtisch stehen Pokale. Hinter der Türe ein Mannschaftsfoto der A-Junioren des TuS Ergenzingen aus dem Jahr 1986. Es ist nicht irgendeines.
Rechts unten in der ersten Reihe kniet einer: Blaue Hose, gelbes Trikot, Schnauzbart, Kapitänsbinde, Haare über der Stirn. Sehr brav, der Junge ist 17 und heißt – Jürgen Norbert Klopp. Keiner nennt ihn Norbert. Dreieinhalb Jahre spielt Klopp für den TuS Ergenzingen. In seinem ersten Jahr bei den A-Junioren nicht so häufig. Da sitzt er meist in der Trainingsjacke auf der Bank. Jürgen ist fußballerisch kein Überflieger. »Der konnte keine drei Mal den Ball hochhalten«, erzählt Walter Baur, 61 Jahre alt, lächelt und kramt einen Ordner heraus. Kurz geblättert, da ist die Stelle: TuS Ergenzingen gegen den SSV Reutlingen. Einzelkritiken. Jürgens Note, eine Sechs. »Ganzer Ausfall, kein Zweikampf gewonnen«, hat Baur damals notiert. Zum TuS kam er eher zufällig.
Auto oder Talent?
Klopp, in Stuttgart geboren, spielt für den SV Glatten, nur ein paar Kilometer von Ergenzingen entfernt. Walter Baurs damaliger Jugendtrainer Hermann Baur – in Ergenzingen gibt’s viele Baurs – sichtet bei einem Auswahlspiel Stürmer Jürgen Haug vom SV Glatten. Den anderen Jürgen hat Hermann Baur nicht auf dem Zettel. Beide kommen zum TuS und müssen drei Mal pro Woche die 40 Kilometer zum Training zurücklegen. Jürgen Klopps Vater Norbert fährt sie. Noch heute hat Jürgen Klopp das Gefühl, dass beim Wechsel nach Ergenzingen des Vaters Autodienste wichtiger waren als sein Talent.
Die Fahrten zum neuen Fußballverein sind kein Zuckerschlecken für Jürgen Klopp. Auf den Fahrten bleibt viel Zeit für Analysen. Vater Norbert ist sein größter Kritiker und erwartet viel von seinem Jungen. Das treibt Jürgen noch mehr an. »Jürgen war sehr dankbar fürs Fahren und wollte dies seinem Vater zurückgeben. Er war unheimlich ehrgeizig«, erinnert sich Baur.
Jürgen Klopp hört sowohl seinem Vater, als auch Trainer Baur aufmerksam zu, während die Mitspieler bei des Trainers Kabinenansprache schon mal plaudern. Noch heute erinnert sich Klopp an Sätze Baurs. Nach der Kabinenansprache geht Klopp raus und jongliert mit dem Ball. »Nach einem halben Jahr hatten wir bei der Weihnachtsfeier Spieler, die wurden zum Seehund. Die haben sich mit dem Ball auf der Stirn hingesetzt und sind damit wieder aufgestanden«, erzählt Baur.
Kein Seehund
Klopp wurde nie ein Seehund, trotzdem hat er was gelernt. Im zweiten A-Juniorenjahr ist er Kapitän, nicht nur auf dem Platz: Er organisiert die Weihnachtsfeier und Kabinenpartys. Er kommt auch bei den Mädels im Dorf gut an. Viele schwärmen für den »Schlacks«, wie Baur ihn nennt. Jürgen lernt seine Freundin auf einer Party in Ergenzingen kennen.
Beim traditionellen A-Jugendturnier an Pfingsten kämpfen sich Klopp und seine Jungens bis ins Finale und treffen dort auf den tschechischen Vertreter Vítkovice Ostrau. Nach der regulären Spielzeit steht es 0:0 – das Elfmeterschießen muss entscheiden. Baur will »die armen Jungs aus Tschechien« gewinnen lassen, Klopp nicht: »Ich glaub du spinnst. Wir hauen alle rein.« Bei der Siegerehrung reckt Klopp den Wanderpokal in die Höhe.
Das ist seine letzte Aktion als Jugendspieler. Die erste als Spieler der Senioren folgt prompt. Lokalkonkurrent VfL Nagold ist hinter Klopp her. Der damals 18-Jährige geht schnurstracks zum Vorstand des TuS Ergenzingen und setzt durch, dass sein A-Jugendtrainer Walter Baur die erste Mannschaft übernimmt. Nur deshalb bleibt er beim TuS.
Berthold wird gescheucht
Im Juli 1986 kommt die Bundesligamannschaft von Eintracht Frankfurt zu einem Testspiel auf die Ergenzinger Breitwiese. Mit dabei Nationalverteidiger Thomas Berthold, gerade zurück von der WM in Mexiko. Vor und nach dem Spiel wird Berthold, der vier Jahre später mit Deutschland Weltmeister wird, von Autogrammjägern gescheucht, während des Spiels vom rechten Mittelfeldspieler Klopp. »Der Jürgen machte das Spiel seines Lebens und lief dem Berthold mehrmals davon«, so Baur. Außerdem erzielt er den Treffer zum 1:9.
Frankfurts Trainer Dietrich Weise ist verblüfft: »Wer ist dieser Junge?«, fragt er seinen Freund Baur und erkundigt sich auch später immer wieder was »dieser Junge« so macht. Der wechselt im Winter zum Oberligisten 1. FC Pforzheim und von dort im Sommer 1987 zu den Amateuren von Eintracht Frankfurt. Von Pforzheim sollen die Ergenzinger die unglaubliche Summe von 12.000 Mark bekommen haben.
»Walter, rate mal«
Klopp studiert in Frankfurt Sportwissenschaften, spielt bei den Amateuren und trainiert die D-Jugend von Eintracht Frankfurt. Über die Stationen Viktoria Sindlingen und Rot-Weiss Frankfurt kommt Klopp 1990 zum 1. FSV Mainz 05. Elf Jahre später, in seinem letzten Spiel für die Mainzer und als Profi überhaupt, am Faschingssonntag 2001, wird er bei Greuther Fürth in der zweiten Halbzeit von Trainer Eckhard Krautzun ausgewechselt. Mainz verliert das Spiel, Aschermittwochs-Stimmung in der Fastnachthochburg – Krautzun fliegt.
Faschingsmontag in Ergenzingen, 11:50 Uhr ist es, das weiß Baur noch genau. Das Telefon klingelt, erzählt Baur, sein früherer Jugendspieler ist dran: »Walter, rate mal, wer der neue Trainer in Mainz ist?«, fragt Klopp. Baur rät ein mal falsch, noch mal. Klopp verrät es ihm: »Seit zehn Minuten – ich.« Baur ist baff.
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