Dachten sie.
Denn als es dann soweit war, wurde es der vierjährigen Magdalena zu viel. »Sie hat richtig herzzerreißend angefangen zu weinen«, sagt Zahler im Rückblick, »man hat das Gefühl gehabt, sie hatte richtig Angst.« Schließlich klappte es doch noch, saß die Lena in schöner Tracht auf der Wiese, der Fotograf war glücklich, der Prospektgestalter auch, nur bei genauem Hinsehen fällt dann auch heute noch auf, dass es eher ein verkrampftes Lächeln war bei Magdalena, richtig fröhlich wirkte sie nicht. Wenn keiner hinschaute, keine Kamera da war und kein Fotograf, dann lächelte die junge Magdalena Neuner oft. Ganz natürlich. Ganz normal.
Normal, das ist ein Begriff, den man oft hört, wenn man alte Bekannte der Neuners danach fragt, wie die Magdalena denn aufgewachsen sei.
Auch der 9. Februar 1987 war ja eigentlich ein normaler Tag. Auf der Welt passierten Dinge, die auch an anderen Tagen und in anderen Jahren passieren, in Beirut explodierte eine Bombe, über Afghanistan wurde ein Transportflugzeug abgeschossen, und in der deutschen Regierung stritt sich schwarz-gelb über eine neue Steuerreform. Nur dass die bundesdeutsche Hauptstadt damals noch Bonn hieß und nicht Berlin.
Das einzige bedeutsame Polit-Ereignis an jenem Tag war der Zusammenbruch der Koalition in Hessen. Es gab Streit um die Genehmigung für die Hanauer Nuklearbehörde Nukem, und als Umweltminister Joschka Fischer von Ministerpräsident Holger Börner seine Entlassungspapiere entgegennahm, war das erste rot-grüne Regierungsprojekt auf Landesebene gescheitert. Fischer sollte dennoch noch eine große Zukunft vor sich haben.
Wie das Baby, das an jenem Tag im Krankenhaus von Garmisch-Partenkirchen auf die Welt kam. Magdalena war das zweite Kind von Paul und Margit Neuner, der dreijährige Paul junior war schon da, 1992 kam dann noch der Christoph, 1994 die Anna.
Vier Kinder, und auch sonst eine große Familie, weit verzweigt, mit vielen Geschwistern, Onkeln, Tanten und Cousins, mit manchen hatte sie weniger Zeit verbracht, mit manchen mehr und mit einem ganz viel. Mit Albert Neuner.
Albert Neuner lebt ganz im Osten von Wallgau, im letzten Haus, im Bauernhof seiner Eltern, da wo er groß wurde. Albert Neuner ist ein Vetter von Magdalena, und als Magdalena Neuner 2007 in Baden-Baden zur »Sportlerin des Jahres« gekürt wurde, kam er als Ehrengast auf die Bühne und überreichte ihr die Trophäe. Damals ging es auch um den Verwandtschaftsgrad, und als die Moderatorin Katrin Müller-Hohenstein nachfragte, wie die beiden familiär zusammenhängen, meinte Magdalena Neuner, dass das etwas kompliziert sei: »Eine Oma von mir ist die Schwester von seinem Vater, die andere Oma von mir die Schwester seiner Mutter, aber meine Eltern sind natürlich nicht verwandt.« Das kann man verstehen, muss man aber nicht, wer aber etwas davon verstehen will, wie die Lena so als Kind war, der spricht am besten mit ihm, mit Albert Neuner.
Auf Distanz zur »Prinzessinnen-Clique«
Albert Neuner kam ein halbes Jahr nach Lena zur Welt, im August 1987. Beide gingen zusammen in den Kindergarten, in die Schule, in den Trachtenverein, und schließlich begannen beide später auch zur selben Zeit mit dem Biathlon. Es gibt viele Fotos, auf denen die Magdalena und der Albert nach ihren Rennen nebeneinander stehen, immer in der gleichen Pose, die üblichen Schnappschüsse, meist hatten sie eine Medaille um den Hals oder einen Pokal in der Hand. Waren beide sehr erfolgreiche Sportler, aber das mit dem Biathlon kam ja erst in der Jugend.
In der Kindheit waren Albert und Magdalena fast immer zusammen, natürlich waren sie in der Grundschule auch in der gleichen Klasse. Zur Grundschule in Wallgau geht es nach dem Rathaus links, sie liegt nach dem Feuerwehrhaus und hat als Adresse Schulstraße 1. Alles liegt in Wallgau genau an dem Ort, wo es hingehört.
1993 kamen Magdalena und Albert in die erste Klasse, eine gemischte Klasse, Mädchen und Buben. »Aber mit den Mädls hat die Lena nie so viel zu tun haben wollen«, sagt Albert Neuner. »Meistens war sie mit uns beieinander, mit den Buben. Da hat es ihr mehr getaugt.«
Eine Gruppe von Mädchen habe es gegeben, sagt er, das sei die »Prinzessinnen-Clique« gewesen. Mit Vorliebe für Mode, Pferde, Rosa, aber zu der habe die Lena nie dazugehört, weil sie da auch nicht dazugehören wollte. »Die war fast nur bei uns«, sagt er, »wir Buben haben auch nie so rumgezickt und rumgedruckst.« Die Buben sagten schon eher immer genau das, was sie denken, gerade raus, offen und ehrlich, dazu das Herumtoben, sich verausgaben beim Sport und im Spiel, das war die Art, die einer Magdalena Neuner schon viel mehr behagte, damals wie heute.
Am Nachmittag nach dem Unterricht gingen die Buben und die Lena dann immer ins Freie an die frische Luft, etwas wie Stubenhockerei war ein Fremdwort. »Dass wir nicht raus sind, da hat das Wetter schon ganz schiach sein müssen«, sagt Albert Neuner, also richtig gräuslich. Dann, wenn sich die trübe Wolkensuppe tief herunter ins Tal hängte und einer dieser oberbayerischen Schnürlregen mit stoischer Beharrlichkeit ganze Tage auf den Ort herunterging, dann saß sogar Magdalena Neuner zu Hause, doch auch da war nicht träges Herumhängen angesagt, sondern Aktivität, da ging es ums Spielen und um viel Phantasie.
Kasperl, Bibi Blocksberg, Meister Eder
Auch Bruder Christoph erinnerte sich einmal an die gemütlichen Nachmittage und Wochenenden mit seiner großen Schwester. »Sehr lustig war immer, wenn die Lena mir und meiner kleinen Schwester Anna mit den Kasperlpuppen aus Holz Geschichten vorgespielt hat«, sagte er damals, »das war immer sehr kreativ und ich werde das nie vergessen.« Es herrschte ein ganz selbstverständlicher Zusammenhalt im Haus, und wenn der Christoph einmal etwas in der Schule nicht verstand, dann war die Lena immer da und half ihm bei den Hausaufgaben.
Natürlich gab es auch Momente, in denen die kleine Magdalena ihre Ruhe brauchte, sich zurückziehen konnte auf ihr Zimmer. Dann hörte sie am liebsten Kassetten. Benjamin Blümchen, Bibi Blocksberg. Und natürlich den Meister Eder und seinen Pumuckl. Fernsehen war bei Neuners eine ganz große Ausnahme, da musste schon etwas Besonderes kommen, einfach mal die Glotze anwerfen und sich von beliebigem, stumpfsinnigem TV-Programm berieseln zu lassen, so etwas gab es nicht.
»Warum auch«, sagt Albert Neuner, »so etwas ist doch nur verlorene Zeit.« Lieber seien sie, die Buben und die Lena, mit dem Radl durch die Gegend geheizt, hätten im Wald Verstecken gespielt und sich Hütten gebaut. Und sind gemeinsam mit den Eltern auf die Berge gegangen.
Wanderungen auf die Berge ringsherum, in Wallgau an den Wochenenden ein familiäres Standardprogramm. Die Schöttelkarspitze, die Soiernspitze, der Wank, der Krottenkopf, der Simetsberg, dazu eine ordentliche Brotzeit für die Rast am Gipfelkreuz, »da haben wir als Kinder schon ganz schön zu tun gehabt«, sagt Albert Neuner, »aber aktiv sein, verbunden mit der Natur, oben am Berg, das hat wahnsinnig viel Spaß gemacht, damit wirst du einfach groß hier.« Genau wie mit dem Glauben.
Wallgau ist sehr gläubig, Magdalena Neuner und ihre Familie sind es auch. Bei den Neuners gibt es wie in so vielen Häusern und Bauernhöfen in der holzvertäfelten Stube neben dem Esstisch einen Herrgottswinkel. Ein Eck, in dem ein Holzkruzifix hängt, Heiligenbilder und Figuren stehen. Maria, Josef, daneben eine Kerze.
Christen gibt es in Wallgau seit der Spätantike, Ende des 13. Jahrhunderts bauten sie hier die erste Kirche, rund um 1680 bekam der Turm dann seine Zwiebelhaube. Die Pfarrei heißt St. Jakob, wie so viele Kirchen entlang des Pilgerwegs, der hier seit dem Mittelalter durch den Ort ging, Richtung Rom, nach Jerusalem und natürlich zum Grab des Apostels Jakob in Santiago de Compostela. St. Jakob ist keine große Kirche, wenn man zum Altar blickt, hat es rechts 17 Sitzreihen und links 15. Die Heilige Messe ist am Sonntag um 9 Uhr, und wenn man es am Sonntag nicht schafft, dann kann man auch am Samstag um 19.15 Uhr gehen.
An einem von beiden Terminen war die kleine Magdalena fast immer in der Kirche zu sehen zusammen mit den Eltern als aktive Gemeindemitglieder, und als Albert und Magdalena Neuner vor Erstkommunion und Firmung standen, da wurden diese Vorbereitungsgruppen von Margit Neuner geleitet, Lenas Mama. Die Familie