Auch im Biathlon holte sie in jeder Altersklasse bundesweit den Gesamttitel, bis Januar 2003, kurz vor ihrem 16. Geburtstag, gelang es ihr, in 36 Rennen am Stück zu triumphieren. Der Vorsprung auf die Konkurrenz war laut der statistischen Aufzeichnungen damals deutlich, bei den Rennen zum Deutschland-Pokal, den nationalen Jugendmeisterschaften, waren es manchmal drei Minuten, andere Male nur zweieinhalb, es war deutlich, dass hier ein Ausnahmetalent unterwegs war. Ihre Technik war vorbildlich, ihr Ehrgeiz auch. Vor allem aber ihre Physis.
»Die Magdalena«, sagt Bernhard Kröll und deutet in den Himmel über Kaltenbrunn, »hat von oben einfach was bekommen.« Kröll meinte das Organische, das Herz-Kreislauf-System, er sagt: »Die Lena hat einfach eine gute Pumpe. Die regeneriert viel schneller als andere. So einen Motor hat kaum eine.« Der Motor lief auf Hochtouren, auf der Straße nach oben war sie nicht mehr zu bremsen.
Elterliches Veto gegen das Weltcup-Debüt
Im Mai 2003 gab es die erste größere Ehrung, in Essen verlieh ihr ein großer Gaskonzern den mit 5000 Euro dotierten »Förderpreis Deutscher Jugendsport«, weil das den Talenten aber nicht in bar überreicht wird sondern in Sachwerten, ließ sie sich das mit einem Moutainbike und einem Straßenrennrad auszahlen. Im Sommer 2003, nach dem Realschul-Abschluss, kam sie dann auch in die Sportfördergruppe des Zolls, das erste Ziel war erreicht.
Und beinahe wäre sie im Januar 2004 dann auch schon im Weltcup gelaufen. In Ruhpolding. Mit 16. Mit den ganz Großen. Wilhelm, Disl, Henkel, Glagow. Ein Platz war nämlich noch frei geworden, Katja Beer fiel damals krankheitsbedingt aus, und darum wollte Frauentrainer Uwe Müssiggang das junge Talent aus Wallgau nominieren.
Müssiggang hatte die Dominanz der Magdalena Neuner im nationalen Juniorinnen-Bereich sehr wohl registriert, auch im Europacup hatte sie noch kurz zuvor gewonnen, im italienischen Brusson einen Doppelerfolg in Sprint und Verfolgung gefeiert, darum lag sie nahe, die Idee mit Ruhpolding. Acht Jahre später sagte Müssiggang im Rückblick: »Es war einfach ein Angebot von unserer Seite, sie einmal in den Weltcup hineinschmecken zu lassen.« Ein Angebot, das wohl viele in ihrer Situation angenommen hätten. Vermutlich würde es viele Eltern geben, die begeistert davon wären und stolz, ihr 16-Jähriges Kind schon im Kräftemessen mit den Weltbesten zu sehen. Und dann auch noch in Ruhpolding, der Hochburg des Biathlon, vor 20.000 im Stadion und Millionen am Fernsehbildschirm.
Auch im »Garmisch-Partenkirchener Tagblatt« hatten sie im Lokalsport bereits den Start der »Biathletin vom Skiclub Wallgau« kurz vermeldet und für den Tag darauf einen großen Vorbericht zum Welt-cup-Debüt angekündigt. Der Bericht kam auch. Allerdings stand darin, dass Neuner nicht startet.
Die Eltern Paul und Margit Neuner hatten das Angebot von Uwe Müssiggang nämlich abgelehnt. »Wir sind darauf bedacht, dass Magdalena behutsam aufgebaut wird«, sagte der Vater, »das war eine schöne Geste und gut gemeint, aber wir können das so nicht tragen.« Auch Helmut Heinrich, der Nachwuchsbeauftragte des Werdenfelser Skigaus, meinte, so etwas käme viel zu früh.
Heinrich kennt die Magdalena, seit sie acht war, und er sagte: »Wenn man so mit ihr umgeht, dann ist sie in zehn Jahren verhunzt.« Ihm war längst klar, dass es kein größeres Talent im ganzen Land gebe, aber genau darum müsse man sich einfach noch Zeit lassen mit einem Einsatz. »In so einem Alter kann man das noch nicht verarbeiten«, meinte er, er wolle später schließlich nicht sagen, er habe nur ein Sternchen ausgebildet, vielmehr solle die Magdalena ein Stern werden. Kein Komet, der frühzeitig verglüht.
»Sportlich hätte sie sicher mithalten können«, sagt Bernhard Kröll, »aber es war genau richtig, sich dagegen zu entscheiden.« Auch wenn es der Magdalena selbst natürlich schon schwer fiel, wie sie damals gestand. »Anfangs habe ich schon gedacht, es wäre cool, Weltcup zu laufen, letztendlich hat aber die Vernunft gesiegt.« Stattdessen lief sie zeitgleich zu Ruhpolding eben im französischen Meribel, feierte da wieder zwei Siege, Verfolgung und Staffel, wurde Zweite im Sprint.
In Frankreich durfte sie dann auch gleich bleiben, mit den Erfolgen im Europacup hatte sie sich für die Junioren-Weltmeisterschaft in Haute Morienne qualifiziert. Im Sprint gewann sie Gold, und das als jüngste der 57 Teilnehmerinnen, 40 Sekunden hatte sie Vorsprung auf ihre Teamgefährtin Kathrin Hitzer. In der Verfolgung holte sie Silber, was an drei Fehlern im Stehendschießen lag, zum Abschluss holte sie mit der Staffel noch ihr zweites Gold, da blieb sie ohne Strafrunde, der dritte Nachlader saß dann, und Neuner musste hinterher eingestehen: »Ich habe gezittert wie die Sau.« Bevor es heim ging, sagte Neuner noch: »Ich bin noch ganz durcheinander, ich habe mehr erreicht als ich mir eigentlich vorgenommen hatte.« Aber das sollte sie noch oft sagen in ihrer späteren Laufbahn, es war ein Vorgeschmack auf das, was noch kommen sollte, auch für die Eltern daheim in Wallgau.
Dort war das Telefon nach den Erfolgen in Frankreich nicht mehr stillgestanden und Vater Paul sagte: »Das nimmt ja gar kein Ende mehr.« Nein, warum auch, jetzt sollte es erst richtig los gehen.
Zurück in der Heimat gab es einen großen Empfang, und auch das war nicht der letzte. Hunderte Wallgauer kamen, es gab Ansprachen von Georg Jennewein, dem Bürgermeister, und von Sepp Feuerecker, dem Skiclub-Vorstand und es gab einen Eintrag ins Goldene Buch des Orts.
Crossfire – schon damals auf die falschen Scheiben
Vieles war damals schon so wie später auch. Wie in Haute Morienne holte Neuner auch sechs Jahre später bei Olympia in Vancouver zwei Gold und ein Silber. Und wie zum Ende der Karriere, im Januar 2012 in Nove Mesto, schoss Neuner auch im März 2004 schon einmal auf die falschen Scheiben. In Clausthal-Zellerfeld.
Dort fanden zum Abschluss der Saison 2003/2004 die deutschen Jugendmeisterschaften statt, im Sprint der Klasse »J17/18 weiblich« kam sie überlegen zum zweiten Schießen im Stehen, doch dann nahm sie die falschen Scheiben ins Visier. Zwar gingen alle fünf Schuss ins Schwarze, aber dummerweise eben auf der Nebenbahn, ein sogenanntes »Crossfire«. Neuner drehte fünf Strafrunden und holte Silber.
Und wie über die ganze Karriere verteilt begannen nun die Ehrungen. Im Juli 2004 durfte sie darum sogar zu Edmund Stoiber. Der war damals noch Bayerischer Ministerpräsident und hatte damit begonnen, jedes Jahr die verdientesten und erfolgreichsten Athleten des Freistaats mit einem eigenen Sportpreis zu ehren – in verschiedenen Kategorien, und in der Kategorie »herausragende Nachwuchssportlerin« siegte damals eben Magdalena Neuner. Neuner war gefragt, in der Heimat sowieso, bei verschiedenen Anlässen wurde sie als Ehrengast dazu gebeten, und sei es nur, um in Mittenwald den Startschuss zum 4. Karwendel-Berglauf zu geben. Dabei musste sie nur einmal schießen, nicht fünfmal, und gar nicht schießen musste sie bei einer Veranstaltung im Februar 2005. Beim traditionellen Wallgauer Schlittenhunderennen.
Dort trat sie spaßeshalber und zur Freude der 4000 Zuschauer gegen ein Schlittengespann mit zwei Hunden an. Am Ende gewann natürlich Magdalena Neuner, sie sagte, das sei eine Mordsgaudi gewesen. Die Huskies sagten nichts mehr, ihnen hing erschöpft die Zunge heraus.
So lustig war es freilich in dieser Saison nicht immer, gleich am Anfang, im Herbst 2004 musste Neuner zweimal zum Zahnarzt, die Weisheitszähne mussten raus. Und auch ihre zweite Junioren-WM im finnischen Kontiolahti im März 2005 begann entsetzlich. Beim Zwischenstopp am Flughafen von Kopenhagen ging das halbe Gepäck verloren, und als sie endlich am Ziel angekommen waren, entpuppte sich das Quartier als eine schlimme Absteige. Später sagte Neuner: »Das Hotel sah aus wie ein Bordell.« Verschmuddelte Zimmer mit roten Lampen an der Wand, überall der Geruch von altem Zigarettenrauch, dazu eine Disco im Erdgeschoss, die die ganze Nacht hindurch aufdrehte bis ultimo.
Am nächsten Tag zogen sie dann um in ein anderes Hotel, Neuner konnte wieder Kraft tanken und holte sich nach Platz vier im Einzelrennen mit dem Sieg im Sprint ihren insgesamt dritten WM-Titel, dazu kam noch Silber in der Verfolgung und mit der Staffel, es folgte das gleiche Prozedere, die Ehrung in Wallgau, noch gewaltiger aber war der Rummel dann im Februar 2006.
Da