Wenn Christus das „alleinige konkrete Maß zwischen Gott und Mensch“246 ist, dann muss jeder Christ von diesem Maßstab her sein Leben gestalten. Das heißt, dass Jesus Christus nicht als menschliches Phänomen gedeutet werden darf, das in einer Reihe mit anderen großen Geistern der Weltgeschichte stünde, sondern das „Menschliche an ihm ist Ausdruck und Werkzeug des Göttlichen, und keineswegs das Göttliche Ausdruck und Werkzeug des Menschlichen“247. Wer als Christ / als Christin das eigene Leben gestaltet, der muss sich mit dieser göttlichen Fülle auseinandersetzen und mehr: er oder sie muss sich beschenken lassen in der persönlichen Christusnachfolge. Jeglicher Versuch, aus der innerweltlichen Bedingtheit heraus zu Gott zu finden, bleibt für Balthasar letztlich ein Streben nach eigener persönlicher Bedürfnisbefriedigung. Der Sehnsucht nach Transzendenz stellt Balthasar die Immanenz Gottes in Jesus Christus gegenüber:
„Der natürliche Mensch und seine Vernunft sind transzendierend. Gottes Gnade, die wir im Glauben ergreifen, ist immanierend. Sie ist nicht unsere Bewegung zu Gott, sondern Gottes Bewegung zu uns. Sie ist das Hereintragen des Himmels in unsere irdische Welt. Sie ist Teilnahme an der göttlichen Natur: seinshaft als heiligmachende Gnade, bewußtseinshaft als Glaube, Liebe und Hoffnung“248.
Die Einmaligkeit Christi ist deshalb die Einmaligkeit Gottes. Und diese Einmaligkeit wird auch der Kirche mitgeteilt. Und wer als Christ / als Christin lebt, der muss sich mit dieser Einmaligkeit Gottes auseinander setzen. Logischer Weise lässt sich diese Einmaligkeit nicht klassifizieren oder in systematische Denkraster einzwängen. Das würde ihrer göttlichen Herkunft widersprechen. Sie lässt sich nur erfahren, in der Tiefe; im Glauben sind Worte möglich, aber nicht mehr auf der Ebene „menschlichen Räsonierens[, sondern in einer] Geheimnis-Dimension der göttlichen Selbstenthüllung“249. Das ist die Zumutung eines christlichen Lebens und für Balthasar: die Abwendung von allen menschlichen oder weltlichen Maßstäben, denn in allen Situationen des eigenen Lebens muss sich der Christ / die Christin darüber im Klaren sein, dass es nicht persönliches Schaffen und Machen ist, auf das er / sie im Letzten vertraut. Gottes Handeln am eigenen Leben zuzulassen und in dieser Beziehung wortlos oder wenig wortgewandt da stehen zu müssen, ist es, was Zugehörigkeit zu Christus zunächst bedeutet.
In diesem Zusammenhang interpretiert Balthasar weltliches Sein in seinen beiden Aspekten „Wesen und Dasein, Gattung und Individuum“250. Aber in allem Suchen des Menschen nach Gottes Fülle und nach dem ganz Anderen, als dem, was sinnlich erfahrbar ist, setzt Gottes Offenbarung gerade „nicht dort ein, wo der suchende Mensch sie erwartet hätte“251. Denn wenn alles Menschliche Ausdruck und Werkzeug des Göttlichen sein kann, dann zeigt sich an Christi Leben ausgenommen der Sünde auch das Gottfernste: „das Kreuz, die Schmach, die Angst und der Tod“252. Gott wird deshalb nicht als eine Art von besonderer Möglichkeit der Kreatur zu verstehen sein, er wird sich in allen Dingen finden lassen und so durch Christus, das Wort Gottes, die ganze Welt zu einem Leib werden lassen.
Wie kann sich nun aber der Christ / die Christin dem universale concretum gegenüber genauer hin verhalten? Balthasar unterscheidet dazu vier Grundtypen personaler Glaubenserfahrung253. Die vier Grundtypen entstehen durch eine verallgemeinernde Auslegung der biblischen Berichte über Personen aus dem Umfeld Jesu. Damit liegen ihnen einzelne Individuen zugrunde, die jeweils ein ganz eigenes theologisches Profil aufweisen – Balthasar geht sogar soweit, hier einerseits von einer Entprivatisierung durch die Sendung254 zu sprechen, andererseits sind es für ihn gerade menschliche Helfer, die mit Christus in einem Zusammenhang stehen, und mit denen seine Sendung unlöslich verbunden ist255:
Der erste Grundtyp zeigt sich für Balthasar in Maria. Sie wird zum Bild der Magd oder der Rezeptivität und sie verdeutlicht damit das „Zurücktreten, Gewährenlassen, Raumgeben“256. Die zweite Sendung besteht in der Person des Apostels Petrus. Balthasar sieht in Petrus das „Tunmüssen mit der ganzen Person, aber restlos im Namen und Sinn des Herrn“257. Es geht hier aber nicht nur um ein reines Aktivwerden für den Glauben oder ein Handeln aus dem Glauben heraus. Die petrinische Sendung beinhaltet auch, dass in einem Menschen die Autorität Christi „konkret werden kann“258. Auf der Grundlage dieser Autorität ist Petrus auch der, der für die Kontinuität, ja sogar für die „nicht-überwundene Wirklichkeit“259 der Kirche steht. Petrus ist also insofern Modell, als er für die Versachlichung, man könnte auch von Objektivierung sprechen, steht. „Den subjektiven Aspekt, der sich etwa in Inspiration, Charisma, Erfahrung und Liebe darstellt, sieht Balthasar in typologischer Hinsicht in Maria verwirklicht. […] Den objektiv-somatischen Aspekt (Tradition, Institution, Sakrament) interpretiert Balthasar petrinisch“260. Die dritte Sendung ist die des Johannes. Als der Jünger, den Jesus liebte, ist Johannes für Balthasar der „Heilige, weil Liebende“261. Seine Bedeutung liegt vor allem darin, dass er Christus „in seiner je-größeren Liebe erscheinen lassen [kann] und seine Kirche in diese Liebe einweihen“262 kann. In gewisser Hinsicht reicht Johannes damit bildlich sowohl Maria als auch Petrus die Hand. Die vierte Sendung ist die paulinische, in der die „katholische Spannungseinheit“263 am deutlichsten wird. Von Paulus soll der Christ / die Christin lernen, was „katholische Universalität ist“264 und so wird Paulus für Balthasar zu dem Modell der Exzentrität.
Diese vier Sendungen oder Grundtypen sind für Balthasar ein vierfacher Weg, jeweils eine „Überantwortung in das Wunder“265 der Liebe Gottes, die in der Welt konket in Jesus Christus und im Heiligen Geist wurde. Das Wunder, das zur Freiheit der Liebe führt und das Loslassen von persönlicher Egozentritk verlangt. Manchmal wird von „einer gegenseitigen Osmose“266 oder einer Perichorese, beziehungsweise Korrelation267 der einzelnen Grundsendungen gesprochen. Tatsächlich beschreibt Balthasar die vier Grundtypen als den „Weg für alle Gemeinden und für alle einzelnen Christen in der Catholica“268, so dass die Sendung der Christinnen und Christen heute auch innerhalb der vier Modelle Zurücktreten/Charisma, Versachlichung/kirchliche Tradition, Liebe und Exzentrität zu suchen wäre. Was für Balthasar nicht denkbar ist, wäre eine Zuordnung, in der das Institutionelle in der Kirche christologisch und das Charismatische pneumatologisch begründet werden würde269.
Das Amt in der Kirche geht auf die Apostel zurück, die alles zurücklassen mussten, um Jesus nachzufolgen, denen in diese Leere die Amtsgnade eingegossen wurde und die als Einzelne berufen sind, nicht als ein Kollektiv270. Auf dieser Grundlage beschreibt Balthasar auch die Charismen, denn diese sind „jedem zugeteilte «Form» oder «Funktion» im lebendigen Organismus der Kirche“271. Damit ist die Metapher vom Leib Christi letztlich der gemeinsame Grund für die Charismen und das kirchliche Amt.
Diese Gemeinsamkeit liegt auch in der Sendung des Heiligen Geistes, denn „er ist der Überschwang der subjektiven Liebe zwischen Vater und Sohn, aber er ist auch deren objektiver Zeuge und deren Verwandlung in eine an die Welt verschenkbare objektive Gabe: hierin ist er, die subjektive Liebe mitvermittelnd, die wahrheitsgemäße (gehorsame) Aktualisierung der göttlichen Liebe in der Welt“272. Ob die Unterscheidung zwischen subjektivem und objektivem Heiligen Geist wirklich statthaft ist273, erscheint im Zusammenhang mit der Firmtheologie weniger entscheidend. Balthasar geht es jedenfalls um die Frage, wie man christliches Leben begründen kann. Denn Gott selbst kann nur als personale Liebe verstanden werden. Und christliches Leben kann nur verstanden werden durch die Aussendung des Sohnes und die Sendung des Heiligen Geistes274.