Für Gotthold Hasenhüttl, der seine Habilitationsschrift bei Hans Küng angefertigt hat, bedeutet die angesprochene charismatische Grundstruktur der Kirche, dass „jeder seinen Platz in der Gemeinde hat, der ihm durch die Vollmacht geschenkt ist, daß dieser Platz der Ort ist, an dem er durch sein Charisma gestellt wurde, und daß er gerade an diesem Ort Kirche mitkonstituiert“213. So wichtig es ist, dass jeder Christ und jede Christin ihren Platz in der Kirche findet, so sehr müsste man in der Theologie Rahners darauf hinweisen, dass alle Christen diesen Platz schon haben, indem sie in ihrem Glauben und Leben die Gegenwart Gottes wirklich werden lassen. In Rahners Denken ist es deshalb weniger ein Platz oder ein Ort, durch den die Mitkonstitution der Kirche durch jeden Christen persönlich zustande kommt, sondern es ist eher das eigene Handeln, das zum Zeichen für die gnadenhaft geschenkte Präsenz Gottes in der Kirche und in der Welt werden soll. Dieses charismatische Handeln muss sich nicht durch große Begabungen äußern. Rahner verweist neben den großen enthusiastischen Bewegungen auch auf die Tugenden, auf die „Bewältigung des Alltags, [das] Durchhalten in geistesgeschichtlich ungünstigen Situationen“214, denen charismatische Valenz zukommt und zählt „nüchterne Gaben und Talente unter die Charismen […] zum Wohl der ganzen Kirche“215.
In einer immer unübersichtlicher werdenden Welt, die durch Automation, Kybernetik und einem „schon neurotisch werdenden Sicherheitsbedürfnis“216 gekennzeichnet ist, entdeckt Rahner auch Kräfte, die dem Charismatischen feindlich gegenüber stünden. Er nennt unter anderem die Einstellungen, alles wäre planbar und habe deshalb auch Erfolg, die Macht der Masse, die das Leben des Einzelnen weniger wichtig erscheinen ließe, die Abhängigkeit von gesellschaftlichen Institutionen und vieles mehr. Charismatisches Handeln ist deshalb ein Tun, das nicht auf Planbarkeit setzt, sondern auf Gottesbeziehung. Es ist ein Handeln, das den einzelnen Menschen persönlich angeht und kaum über eine große Masse verfügen kann, das persönliches Angesprochensein beinhaltet und Sicherheit eher als Heilszusage von Gott, denn als Abhängigkeit von einem staatlichen Amt versteht. Innerkirchlich ist eine parteihaft gedachte „Einheit und Geschlossenheit“217 und Überheblichkeit – Rahner denkt hier an den Zentralismus kirchlicher Bürokratien – dem charismatischen Handeln entgegengesetzt. Ursula Schnell hat daher die Frage gestellt, ob man doch davon ausgehen müsse, dass Rahner in diesem Aufsatz kirchliches Amt dem Charisma gegenüberstellt218. Das kirchliche Amt hat zwar prinzipiell nichts mit Parteinahme und Bürokratismus zu tun. Und auch kirchliche Amtsträger sind gefirmte Christen, denen als solchen auch der Geist verliehen ist, „der sich nach außen charismatisch kundtut“219. In wiefern aber kirchliche Verwaltungen dem charismatischen Handeln der Kirche dienen oder es erschweren, wird jeweils nur im Einzelfall überprüfbar sein.
Die Firmung dient somit nach Rahner als Sakrament „zum Empfang des charismatischen Geistes der weltverklärenden Sendung in der Durchführung des Auftrages, der der Kirche als solcher eignet“220. Die Firmung wird so zur Beauftragung an der apostolischen Sendung, die nichts mit einer kümmerlichen und ängstlichen Existenz zu tun hat, sondern mit dem Grundauftrag der Kirche selbst. Nur in diesem Zusammenhang wird man davon sprechen können, dass die Firmung mit Mündigkeit oder Reife zu tun hat. Denn während die Lexeme Reife und Mündigkeit interpretationsoffen sind, geht es in der Firmung um die „messianischen Geistesfülle, die erstmalig in Jesus Christus gegeben war und als sein Pfingstgeschenk immerfort der Kirche mitgeteilt wird“221.
Mit dem Wort Charisma tut sich allerdings auch eine Bandbreite von deutenden theologischen, spirituellen oder pseudowissenschaftlichen Erklärungen auf. Gerade durch die alltägliche Bedeutung des Charismas scheint sich Rahners Verständnis deutlich von den verschiedenen Interpretationen des gegenwärtig stark anwachsenden Pentekostalismus zu unterscheiden: „Allerdings hat die klassische Pfingstbewegung durch die Überbetonung der spektakulären Charismen das biblische Verständnis des Geisteswirkens in Richtung auf das Wundersame und Mirakulöse verschoben“222. Die spektakulären oder leuchtenden Charismen mögen zu einer „Entzauberung einer rein weltlichen Kultur und Gesellschaft“223 beigetragen haben – der evangelische Theologe Peter Zimmerling geht aufgrund des biblischen Befundes dennoch davon aus, dass jede „Betonung der spektakulären Gnadengaben […] problematisch [ist, denn] Paulus geht von der prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Charismen aus“224. Der im Jahr 2014 verstorbene Exeget und Religionswissenschaftler Dieter Zeller schreibt den Charismen bei Paulus noch eine weitere Bedeutung für die Entwicklung der christlichen Gemeinde in Korinth zu. In der Zeit zwischen der Gründung der heidenchristlichen Gemeinde und der erwarteten Parusie würden die vielfachen Charismen den Enthusiasmus der Gemeinde befördern. Gerade im Proömium des ersten Briefs an die Korinther zeigt Zeller, dass das Lob des „Gnadenstandes […] den leuchtenden Hintergrund [bildet,] vor dem sich die folgenden Mahnungen abheben“225.
Die Beziehung der Charismen in den Paulusbriefen zur christlichen Gemeinde, zur Kirche, steht für eine Vielzahl von exegetischen Kommentatoren an einer zentralen Stelle226. Norbert Baumert hält deshalb fest, dass die Charismen „nicht isoliert, sondern nur in Kommunikation gelebt werden“227 können. Als Gabe an jeden einzelnen Christen stellen die Charismen deshalb auch eine Grenzerfahrung dar, so jedenfalls Klaus Berger228. Damit meint er zunächst einmal eine nicht weiter spezifizierte Grenze der persönlichen Leistungs- und Leidensfähigkeit mit der Erfahrung des Haltes, des Trostes und der Stärkung durch Gott. Charisma könnte somit auch die „persönliche Brücke zum Christentum“229 werden. An zentraler Stelle steht in diesem Zusammenhang bei den paulinischen Charismen auch das diakonische Handeln: „Dass die κοινωνία mit Jesus Christus auch brüderliche Gemeinschaft erfordert, müssen die Korinther erst noch lernen“230. Deshalb kann man zurecht von der „Diakonie als Identität des Christentums“231 sprechen. Hans-Josef Klauck spannt den Bogen der Charismen bei Paulus noch weiter. Er unterscheidet vier Kategorien232: die kerygmatischen Charismen zu Verkündigung und Lehre, die diakonischen Charismen, zu denen alle Arten von Hilfeleistung gerechnet werden, die kybernetischen Charismen, die zur Gemeindeleitung dienen und zum Schluss die pneumatisch-eksatatischen Charismen, also die leuchtenden oder spektakulären Gnadengaben, die durch das Liebesgebot in 1Kor 13,1 allerdings stark relativiert werden. Ebenso hält auch Erich Garhammer fest: „Die ekstatischen Charismen werden durch die nüchternen organisatorischen und diakonischen Dienste relativiert. Letzte Bezugsgröße, an der die Charismen gemessen werden, bleibt die Liebe“233.
Neopentekostale Gruppen gewinnen laut Martin Hochholzer in den letzten Jahrzehnten gerade in Ländern Lateinamerikas und Afrikas immer stärker an Zuwachs, während die katholische Kirche „rapide an Mitgliedern verliert“234. Auch wenn Hochholzer dies für die religiöse Situation in Deutschland nicht konstatiert, bleibt die Frage, was die Stärken pentekostaler Spiritualität in den genannten Ländern sind. Seiner Meinung nach läuft es hauptsächlich auf die Abgrenzung pentekostaler Gruppen von einem rational-nüchternen Weltbild hinaus235. Es sind offensichtlich vor allem so genannte weiche Faktoren, welche die Entscheidung, sich einer pentekostalen Gruppe anzuschließen, begünstigen. Darunter zählen auch236: Die starke und integrierende Rolle, die Frauen in pentekostalen Gemeinschaften spielen und die dem sonst üblichen machismo entgegenstünden, die mediale Wirksamkeit neopentekostalen Christentums, die durch die Urbanisierung begünstigte Entwurzelung Arbeit suchender Menschen von ihrer Heimat und religiösen Sozialisation. Ferner die prosperity gospel, also das in der Predigt verkündete