Nachdem die Verfassungsreform von 1906 die strukturelle adlig-katholische Mehrheit in der Ersten Kammer und die ständische kirchliche Vertretung in der Zweiten Kammer beseitigt hatte,68 war das Wirken des Zentrums in der Zweiten Kammer umso wichtiger geworden. In seinem Lob wurde Keppler hier 1907 geradezu lyrisch: „Und freilich tun sich die Führer dieser Fraktion nicht nur durch Weisheit, sondern auch durch ihre Tugenden vor den anderen hervor; mit solchem Mut und solchem Eifer verteidigen sie die katholische Sache, dass schon die Regierung selbst, die anfangs wenigstens ein genügend großes Misstrauen dem Zentrum gegenüber vor sich hertrug, nicht anders kann, als es zu achten. Es besteht kein Zweifel, dass durch die unermüdlichen Mühen dieser Männer die Rechte der Kirche viel mehr als zuvor gewahrt werden und in hohem Maße gehindert wird, dass gegen die Kirche ungerechte Gesetze verabschiedet werden. Sicherlich haben freilich aus diesem Grund die gehässigen Ausfälle der Protestanten gegen uns so zugenommen, dass sie in der Verleumdung, der ungerechten Behandlung und der feindlichen Verfolgung uns gegenüber schon mit den Sozialisten wetteifern.“69 Wenn Kepplers Vertrauen auf die Wirksamkeit des Zentrums sich auch vor 1918 nur sehr bedingt erfüllen sollte, so bleibt doch seine Identifikation mit dieser in Württemberg immerhin laikal geführten Partei bemerkenswert. Hier lag auch ein gewisser Unterschied zu dem von ihm sonst verehrten Papst Pius X., der die politisch-gesellschaftliche Aktivität von Laien immer unter geistlicher Aufsicht sehen wollte. Obwohl Keppler im Gewerkschaftsstreit um die interkonfessionellen christlichen Gewerkschaften zunächst äußerste Zurückhaltung geübt70 bzw. als Gegner derselben gegolten hatte – Fürstbischof Adolf Bertram von Breslau (1859-1945) schrieb vor seiner Verteidigung der christlichen Gewerkschaften auf der Fuldaer Bischofskonferenz 1912, er hoffe, dass mir, falls ich meinen Platz wieder neben Paul Wilhelm [Keppler] bekomme, der Humor nicht ausgeht71 –, so stellte sich der Rottenburger Bischof ab 1913 öffentlich hinter die christliche Gewerkschaftsbewegung.72 Schon 1902 hatte er eine relativ „demokratische“ Satzung für den Diözesanverband der Arbeitervereine genehmigt.73 Kurz gesagt: Keppler war sicher ein Antimodernist, aber nicht unbedingt ein Integralist. Entsprechend dankte Keppler in seiner Relation von 1913 dem Papst für die mühsam erreichte Duldung der christlichen Gewerkschaften in der Enzyklika Singulari quadam von 1912. Die Einbeziehung der Arbeitervereine in die gemischten Gewerkschaften sei nötig gewesen, damit auch ein Erfolg im Einsatz um mehr Lohn errungen und so den Sozialisten das Wasser abgegraben werden könne. Die katholischen Arbeiter könnten dort zugleich sittliches Vorbild sein. Die Arbeitervereine an sich entsprächen aber ganz den römischen Vorgaben.74
Die katholische Presse in Württemberg
„In keinem Land unternahmen die Katholiken halbherzigere Anstrengungen für das Wachstum ihrer Presse (zwischen 1865-1912 ‚nur‘ 87%).“75 Doch auch hier intensivierten sich ab den 1890er Jahren die Bemühungen. Bischof Keppler konnte dann 1913 insgesamt dreißig katholische Tageszeitungen nach Rom melden.76 Unter ihnen ragte das bereits 1848 gegründete „Deutsche Volksblatt“ in Stuttgart heraus, in dessen Verlag auch das „Katholische Sonntagsblatt“ erschien. Volksblatt und Sonntagsblatt konnten 1891 auf Landesebene eine Quasi-Monopolstellung erreichen, indem die AG Deutsches Volksblatt die ultramontanen „Donzdorfer“ Gegengründungen „[Anzeiger vom] Ipf“ und „Katholisches Wochenblatt“ aufkaufte.77 Auch bezüglich des Volksblattes wurde 1876 ein kurzer Richtungsstreit ausgefochten: Nachdem das Blatt in die Hand des katholischen Demokraten und späteren Zentrumsmannes Rudolf Probst (1817-1899) und seines Schwagers Karl von Streich (1826-1917) gekommen war, befürchtete Bischof Hefele eine zu große Annäherung an die demokratische Volkspartei, die damals in Württemberg von vielen Katholiken gewählt wurde.78 Ab 1877 lenkte der neue Schriftleiter Konrad Kümmel (1848-1936)79 das Blatt aber ganz im Sinne Hefeles wieder mehr in die Richtung der regierenden konservativen Landespartei. Nach Hefeles Tod konnte Kümmel dann durch das Volksblatt zur Gründung des Zentrums in Württemberg beitragen. Kümmel überließ dem schon oben genannten Joseph Eckard 1895 die Schriftleitung des Volksblattes, an der von 1896 bis 1903 auch Matthias Erzberger mitwirkte. Das Volksblatt war damit zum typischen Zentrumsblatt geworden. Kümmel widmete sich nun ganz dem Sonntagsblatt80, das zwar politisch auch eindeutig positioniert war, aber eher in mentalitätsgeschichtlicher Hinsicht interessant ist. Ähnlich wie die Haus- und Volkskalender81 wollte das Volksblatt durch erbauliche Erzählungen Unterhaltung und religiöse Bildung miteinander verbinden. Den Lesern wurde dabei indirekt oder direkt auch ein bestimmter Frömmigkeitsstil (gekennzeichnet durch Wallfahrten, Exerzitien, Herz-Jesu-Verehrung etc.) nahegebracht.82
Resümee
Insgesamt fällt auf, wie stark Keppler Rottenburg als Musterdiözese im Sinne des „konservativen Reformpapstes“ Pius X.83 darstellte; dieser verband theologische und kirchenpolitische Intransigenz mit einer formalen Modernisierung der Kirche im Sinne der pastoralen Intensivierung und Effizienzsteigerung. Unverkennbar bleiben aber auch die Reserven, die der Antimodernist Keppler dem römischen Integralismus gegenüber wahrte. Und auch insofern war das Bistum Rottenburg unter Keppler fest im mainstream des deutschen Katholizismus