Bei der großen Zahl an Priestern hatte Keppler nur von relativ wenigen „schwarzen Schafen“ zu berichten. „Skandale gibt es sehr selten und wenn sie geschehen, werden sie streng bestraft.“49 Ausführlicher schreibt er 1913, dass er in den vergangenen Jahren gegen einen Priester wegen Trunkenheit und gegen vier weitere wegen Keuschheits-Delikten habe vorgehen müssen. Zwei von ihnen mussten die Diözese verlassen, zwei verloren ihr Benefizium und wurden nach einer Bußzeit mit einer weniger bedeutenden Stelle versehen. Gefallene Priester schickte Keppler zu Exerzitien in ein Kloster. Der Skandal in der Pfarrei werde durch sofortige Entfernung und die Sendung eines guten Nachfolgers repariert.50 Etwas bewegter war dann offenbar der Fünfjahreszeitraum von 1913 bis 1918, nicht zuletzt wegen des Krieges. Keppler berichtet, dass er, um einen Skandal zu vermeiden, einen Pfarrer wegen unsittlicher Gespräche und Berührung von Frauen sowie wegen Trunkenheit zur Resignation auf seine Stelle gedrängt habe. Er sei nach der Pensionierung dann bald gestorben. Ein anderer Pfarrer habe mit einer jungen Frau ein Kind gezeugt, habe die Stelle dann verlassen, sich im Krieg bewährt und erhalte nunmehr eine neue Stelle. Zwei Pfarrer hatten Verhältnisse mit Frauen, deren Männer im Krieg waren. Einer von ihnen sei suspendiert und zum Sanitätsdienst eingezogen worden, der andere habe seine Stelle aufgegeben und sich auf Dauer in ein Kloster zurückgezogen. Ein weiterer Pfarrer habe seinen guten Ruf verloren, sei aber, da die Regierung eine Pensionierung verweigert habe, nach Ablauf eines Jahres auf eine andere Stelle versetzt worden. Schließlich hätten zwei Priester schwer gegen das sechste Gebot gesündigt. Da ihr Verbrechen aber geheim geblieben sei, seien ihnen nach einer Bußzeit andere Stellen bzw. Aufgaben übertragen worden. Hier muss aufgrund der Ausdrucksweise von Keppler offenbleiben, wobei genau es sich bei dem sexuellen „crimen“ gehandelt hat.51 Die Relation von 1913 weist übrigens ausdrücklich – aber in einem anderen Kontext – darauf hin, dass der Bischof den geheimen Teil der Dokumente bei sich aufbewahrt; insofern sind die Statusrelationen der wohl einzige historische Anweg zu diesem Thema.52
Wenn die württembergische Regierung auch nicht alle seine Pensionierungswünsche erfüllte, so konnte Keppler 1913 immerhin nach Rom melden, dass sich die Besoldungssituation für die Geistlichen beträchtlich verbessert hätte: Seit 1911 sei eine altersabhängige Progression eingeführt worden, so dass Pfarrer neun Jahre nach der Ordination 2.500 Mark pro Jahr erhielten, nach 27 Jahren 3.800 Mark, Kapläne stiegen entsprechend von 2.000 auf 2.800 Mark. Für die Besetzung der Pfarrstellen wurde im Übrigen keine Einzelausschreibung vorgenommen, sondern zweimal jährlich ein allgemeiner Konkurs durchgeführt. Die Domkapitulare erhielten je nach Alter zwischen 5.400 und 6.200 Mark, der Domdekan 7.200 Mark, ein Domvikar 4.000 Mark. Damit lag das Kapitel deutlich über den Bezügen eines damaligen Universitätsprofessors, dem jährlich ca. 3.500 Mark sowie Zusatzleistungen von ca. 1.200 Mark zustanden. Da das Domkapitel zugleich das Bischöfliche Ordinariat bildete,53 war die Besoldung durchaus angemessen. Die hohe Arbeitsbelastung durch die Amtsgeschäfte halte das Kapitel auch davon ab, wie Keppler der Kurie ausführlich darlegte, seine Chorpflichten zu erfüllen. Nur an den Sonn- und Feiertagen versammele es sich zu Laudes, Messe und Vesper sowie im Triduum sacrum zu Matutin und Laudes. Hinzu kämen die marianischen Andachten im Mai und die Rosenkranzandachten im Oktober.
Das Verhältnis zu Regierung und Verwaltung, die politische Mobilisierung der Katholiken
Im 1907 erstellten „Update“ der Relation von 1902 zeichnet Keppler ein relativ idyllisches Bild von der staatskirchenrechtlichen Situation. Das Staatskirchenregiment sei gemildert; es gebe zum Beispiel kein Placetum regium mehr. Der Einfluss der Regierung sei aber groß bei der Verwaltung der kirchlichen Güter, die frommen Stiftungen und die Kongregationen würden ängstlich überwacht, keine Orden erlaubt; zudem bestehe für die Mehrzahl der Benefizien das königliche Patronat. Dies sei aber alles kein großes Problem, da der Katholische Kirchenrat als staatliche Mittelbehörde (bestehend aus zwei Priestern und vier Laien) dem Bischof ergeben sei und seinem Vorschlag folge. Hierbei hatte Keppler wohl vor allem seinen Freund Richard Wahl (*1854) vor Augen, der allerdings schon 1906 gestorben war, sowie den geistlichen Kirchenrat Eduard Vogt (1865-1923).54 Die optimistische Einschätzung Kepplers wurde allerdings bald Lügen gestraft, als der Kirchenrat 1908 nach der Publikation der Enzyklika „Pascendi“ durch Keppler auf das vorher eigentlich nötige Plazet zurückkam. Ähnliche Kontroversen gab es dann noch bei anderen Gelegenheiten bis 1918.55 Sehr enttäuscht war Keppler auch über die 1909 verabschiedete Schulnovelle, welche zwar am konfessionellen Charakter der Volksschule festhielt, aber die geistliche Orts- und Bezirksschulaufsicht abschaffte und in den Mittelschulen die Simultanschule zuließ.56 Für Keppler führte der Weg von der Simultanschule zuerst zur religionslosen und dann zur religionsfeindlichen Schule. Diese politische Niederlage stellte auch den wesentlichen Gehalt seiner kurzen Zwischenrelation von Ende 1909 nach Rom dar.57 1913 resümierte er dann sehr trocken: „Der württembergische König protestantischer Konfession [Wilhelm II.] ist gerecht und wohlwollend dem Bischof gegenüber. Es ist oft schwierig, gegen die Regierung und die Verwaltungsbeamten, die fast alle Akatholiken sind, die Rechte der Kirche und des Bischofs geltend zu machen. Wir sind den menschlichen Gewalten gegenüber frei von der Schuld knechtlicher Gesinnung.“58
Es ist wenig verwunderlich, wenn Bischof Keppler vor diesem Hintergrund die politische Mobilisierung der Katholiken in seinem Bistum als Mittel zur Durchsetzung kirchlicher Interessen und die Zentrumspartei als Transmissionsriemen dafür verstand. Auch die neuere Forschung tendiert dazu, die späte Gründung der Zentrumspartei in Württemberg weniger auf die wirtschaftliche Unzufriedenheit in den agrarisch geprägten katholischen Oberämtern zurückzuführen,59 sondern sie als Konfessionalisierung der württembergischen Landespolitik zu verstehen.60 „Meine Herren! Kutten und Kinder haben uns zusammengeführt, dass wir das württembergische Zentrum gebildet haben“61, so rief der Priester und Schriftleiter des „Deutschen Volksblattes“ Joseph Eckard (1865-1906) 1895 bei der ersten Landesversammlung des württembergischen Zentrums in Ravensburg aus. Kutten und Kinder, die Ordensfrage62 und das konfessionelle Schulwesen standen auch für Keppler im Mittelpunkt des Interesses. Scharfsinnig erkannte Keppler dabei die Vorfeldfunktion