Wenn die dazu notwendigen päpstlichen Ernennungs-Bullen aber erst am 28. August 1820 in Rom ausgefertigt wurden, zeigt diese dreijährige Verzögerung einerseits, welche gravierenden Streitpunkte um Kirchenfreiheit, Kirchenfinanzen und den – zunächst in Münster und dann in Bonn lehrenden – „aufgeklärten Theologieprofessor Georg Hermes“38 während der preußischen-päpstlichen Konkordatsverhandlungen an dem Präzedenzfall der vorgezogenen Wiedersetzung des Münsterer Bischofsstuhles noch ausgefochten werden mussten, in deren Verlauf Fürstbischof Lüning u.a. seinen Rücktritt von dem angebotenen Münsterer Bischofsstuhl anbot und auch ein angebotenes „Apostolisches Vikariat für das Bistum Münster“ ablehnte.39 Andererseits war dieser „Schwebezustand“ des Münsterer Bischofsstuhls die Ausgangssituation, in der Fürstbischof Lüning als neue Herausforderung auch noch zusätzlich das Apostolische Vikariat für das Eichsfeld und Erfurt übertragen werden konnte.
3. Apostolischer Vikar für das Eichsfeld und Erfurt
In der traditionellen Zugehörigkeit von Erfurt und dem Eichsfeld zum alten Erzbistum Mainz trat eine erste Veränderung ein, als der letzte Mainzer Weihbischof für die Region, Johann Maximilian von Haunold, am 20. Januar 1807 verstarb.40 Der letzte regierende Kurfürst und Erzbischof von Mainz war der bekannte Karl Theodor von Dalberg, der ab dem Jahre 1803 als Fürstprimas von Napoleons Gnaden seinen Sitz nach Regensburg hatte verlegen müssen.41 Bis zu seinem Tod am 10. Februar 1817 standen damit die seit 1802 zur preußischen Provinz Sachen gehörenden Katholiken der Gebiete Eichsfeld und Erfurt unter einem noch aktiven, aber aus preußischer Sicht „ausländischen“ geistlichen Oberhaupt. Zwar war nach Dalbergs Tod in Regensburg der altersschwache Weihbischof Johann Nepomuk von Wolf zum Kapitularvikar gewählt worden und wurde am 7. Mai 1817 auch noch von Papst Pius VII. als Apostolischer Administrator des Bistums Regensburg und damit auch der thüringischen Gebiete bestätigt. Da Johann Nepomuk von Wolf (†1829) trotz seiner Altersgebrechlichkeit 1822 sogar als Bischof von Regensburg inthronisiert wurde,42 stellt sich die Frage, wer kam wann und warum für die schon 15 Jahre unter dem kirchlichen Regiment von Regensburg stehenden preußischen Gebiete Eichsfeld und Erfurt auf die Idee, einen preußischen Bischof bestellen zu lassen.
Schon im Jahre 1872 kam Otto Meyer in einem Satz vom Tod des Fürstprimas Dalberg am 10. Februar 1817 zur Ernennung Lünings am 15. Dezember 1818 zum Apostolischen Vikar jener mainzisch-regensburgischen Gebiete, ohne zu fragen, warum die Bestellung Lünings rund 20 Monate dauerte.43 Ein erstes Ereignis vom 5. Juni 1817 hatte weichenstellende und indirekte Auswirkung auf die kirchliche Verwaltung des Eichsfeldes und von Erfurt. Es war das Bayerische Konkordat von 1817, das das organisatorische Ende des mainzisch-regensburgisch-dalbergischen Kirchenregiments bedeutete und eine Neuorganisation der bayerischen Bistümer innerhalb der bayerischen Landesgrenzen herbeiführte.44 So wurden die vormals zur Mainzer, gegenwärtig zur Regensburger Diözese gehörenden Gebiete um Aschaffenburg mit der Diözese Würzburg vereinigt. Die vormals Mainzer dann Regensburger Gebiete, die nun in Preußen lagen, wie das Eichsfeld und Erfurt, wurden natürlich im bayerischen Konkordat nicht genannt, auch wenn sich seine umstrittene Realisierung bis 1821 verzögern sollte. Sodann erklärt sich die Verzögerung bei der Berufung Lünings innenpolitisch mit dem Aufbau der preußischen Verwaltung in den neuen Provinzen. Daraus ist zu ersehen, dass erst mit der Instruktion vom 29. Oktober 1817 ihnen auch die katholischen Kirchenangelegenheiten unterstellt wurden. Außenpolitisch hatten sich die angelaufenen preußischen Verhandlungen mit dem Heiligen Stuhl über eine konkordatäre Vereinbarung verzögert, so dass es auf preußischer Seite bis zum 5. Mai 1818 dauerte, bis die Hauptverhandlungspunkte zusammengestellt waren.45
Nachdem eigentlich seit Mitte des Jahres 1817 die Transferierung Lünings ins Bistum Münster anstand, ist aus dem September 1818 ein drittes Ereignis zu benennen, was wohl auf die Berufung Lünings zum Apostolischen Vikar Auswirkungen hatte. In einer vierzigseitigen Dankschrift nahmen die beiden westfälischen Bischöfe Fürstbischof Lüning und Fürstbischof Franz Egon von Fürstenberg von Hildesheim und Paderborn Stellung zu dem „nun schon 15 Jahre schwankenden Zustande der katholischen Kirchenangelegenheiten“. In neun Punkten beklagten die beiden einzigen in Norddeutschland bzw. westlich der Weser residierenden Bischöfe die pastoralen Notstände sowie die Gefährdung der Glaubenslehre und Religionsfreiheit. In Berlin bei der preußischen Regierung blieb diese Denkschrift der beiden westfälischen Bischöfe ohne offizielle Antwort und Kardinalstaatssekretär Consalvi in Rom hatte auch nichts von einer Missstimmung der preußischen Regierung darüber in Erfahrung bringen können.46
3.1 Zur preußischen Berufung des Apostolischen Vikars
Zur Berufung Lünings für das Eichsfeld und Erfurt wissen wir aus einem späteren Bericht des in Münster privat residierenden ehemaligen Vizesuperiors der Holländischen Missionen, der in die vertrauliche Funktion eines Internuntius eingetreten war, Luigi Ciamberlani (†1828 in Münster), dass der preußische Antrag dazu am 24. November 1818 bei der römischen Kurie gestellt worden war.47 Da wir nun ebenfalls aus dem vorliegenden Original gesichert wissen, dass die päpstlichen Ernennungsbullen am 15. Dezember 1818 ausgestellt wurden, haben wir es bei der Ernennung Lünings zum Apostolischen Vikar des Eichsfeldes und Erfurts mit einem wirklich schnellen Vorgang der päpstlichen Kurie innerhalb von drei Wochen zu tun.
Dazu beginnt die Überlieferung des Paderborner Erzbistumsarchivs mit einem Privatbrief des Agenten der deutschen Bistümer an der Kurie, Carlo de Augustini (†1847), vom 12. Dezember 1818. Darin berichtet er an Lüning, dass sich seine Transferierung nach Münster verzögern würde, er aber umgehend „per i distritti di Erfurt e di Eichsfeld Prussiano“ ernannt würde.48 Nachdem das Datum der preußischen Beantragung des Apostolischen Vikariates für Lüning beim Papst ermittelt werden konnte, wird dieser Wege auch in dem Schreiben des Sächsischen Oberpräsidenten Friedrich von Bülow (1816-1821) vom 6. März 1819 an das Geistliche Gericht in Erfurt nachgezeichnet.49 Wahrscheinlich auf Veranlassung des neuen Ministeriums der geistlichen, medizinal und Unterrichts-Angelegenheiten unter Minister Karl Freiherr zu Altenstein (†1840) hatte die königlich-preußische Gesandtschaft im Jahre 1818 beim päpstlichen Stuhl beantragt, dass die katholischen Gemeinden aus dem Bistum Regensburg getrennt und der Aufsicht des Fürstbischofs von Corvey als „Vicarius apostolicus“ unterstellt werden sollten.50
3.2 Zur Vorstellung und Einführung als Apostolischer Vikar
Nachdem dies zunächst im März 1819 über die preußische Regierung in Erfurt zur Bekanntmachung gebracht worden war, meldete sich Anfang April 1819 von Corvey aus Fürstbischof Lüning erstmals als Apostolischer Vikar der königlich-preußischen Fürstentümer Eichsfeld und Erfurt. Dabei wurde er in seiner Arbeit unterstützt von seinem Sekretär Vinzenz Bracht (†1851).