Auch in dieser neuen französischen Besatzungszeit konnte Fürstbischof Ferdinand Titel und Pension weiter behalten und führte in realpolitischer Einschätzung seine bischöflichen Amtsgeschäfte zeitweise von der neuen Hauptstadt des Königsreichs in Kassel aus. Dafür ernannte ihn König Jérôme von Westfalen im Jahre 1812 nicht nur zum Großalmosenier der Krone, sondern bezog ihn auch in die Pläne für die Neugestaltung der katholischen Kirchenverhältnisse im Königreich Westfalen ein. Danach sollte für das Königreich Westfalen ein neues Erzbistum errichtet werden aus den Territorien und mit den noch lebenden Domkapitularen der Bistümer Hildesheim und Paderborn sowie Corvey. Mit der Martini-Kirche in Kassel als neuer Domkirche wollte König Jérôme Fürstbischof Lüning zu seinem neuen Erzbischof machen.31 Dies wäre wohl für Ferdinand von Lüning der Kulminationspunkt seiner geistlichen Karriere geworden und hätte Westfalen einen ersten Erzbischof gebracht. Doch diese französischen Konkordatspläne waren nach der militärischen Niederlage Kaiser Napoleons in Russland im Winter 1812/13 gegenstandslos geworden, und Westfalen kam ab März 1815 an das Königreich Preußen. Der Wiener Kongress 1814/15 brachte zwar eine neue politische Ordnung für Europa, aber nicht die angestrebte kirchliche Neuordnung für Deutschland. Vielmehr ging nun die Regelung der Kirchenverhältnisse in die Zuständigkeit der Einzelstaaten im Deutschen Bund über.
2.2 Verzögerte päpstliche Ernennung zum Bischof von Münster 1815-1821
Vor diesem Hintergrund sind im evangelisch geprägten Königreich Preußen des Weiteren die Umstände zu betrachten, die zur Designation des zweiten Corveyer Fürstbischofs Lüning zum Bischof von Münster führten. Nachdem das säkularisierte Fürstbistum Münster ab dem Jahre 1807 direkt zum Kaiserreich Frankreich gehörte, war dort nach dem französischen Konkordat von 1802 eine neue Kirchenordnung in dem ehemaligen Fürstbistum eingeführt worden. Dazu gehörte ein neues napoleonisch-bürgerliches Domkapitel, in dem alle Mitglieder Priester sein und in Frankreich leben mussten. Damit verlor auch Fürstbischof Lüning als „Ausländer“ sein Kanonikat am Münsterer Dom. Das neue bzw. napoleonische Münsterer Domkapitel, das vom 1. Mai 1813 bis zum 9. Oktober 1815 bestand, umfasste auch nur noch elf Kanoniker und war ohne Bischofswahlrecht.32 Die von Kaiser Napoleon beanspruchte Ernennung eines neuen Münsterer Bischofs fiel auf den vormaligen Domdechanten des alten Münsterer Domkapitels, Ferdinand August Graf von Spiegel, der nach 1825 dann auch von Preußen bestimmter Erzbischof von Köln werden sollte.33 Dieser von Kaiser Napoleon für das Bistum Münster ernannte Bischof leistete – wegen der Abwesenheit Napoleons auf Kriegszügen – seinen staatlichen Treueeid in die Hände der Kaiserin Marie-Louise (von Österreich, †1847); aber wegen der andauernden kirchenpolitischen Konflikte zwischen Kaiser Napoleon und Papst Pius VII. erhielt der ernannte Münsterer Bischof Spiegel keine päpstliche Konfirmation. Um ohne päpstliche Bestätigung die Diözesanverwaltung realisieren zu können, wählte das französische Domkapitel in Münster den ernannten Bischof Ferdinand von Spiegel zum zweiten Kapitularvikar.34 Der seit 1807 amtierende interimistische Bistumsverwalter und Kapitularvikar Clemens August Droste zu Vischering, der in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts dann durch die „Kölner Wirren“ kirchenpolitisch bekannt werden sollte, übertrug bzw. „substituierte“ im August 1812 die Diözesanverwaltung an den ernannten Bischof Spiegel und enthielt sich weiterer Amtshandlungen.
Doch diese vorläufige französische Diözesanverwaltung im Bistum Münster mit Spiegel als (nur) ernanntem Bischof, zweitem Kapitularvikar und substituiertem Verwalter der Diözese war schon ab November 1813 wieder in Frage gestellt, nachdem Westfalen zunächst vorläufig und dann endgültig 1815 an das Königreich Preußen gefallen war. Denn der durch die französische Kirchenpolitik „ausgebootete“ alte Kapitularvikar Clemens August Droste zu Vischering nahm sofort geheimen Kontakt mit dem nach Rom zurückgekehrten Papst Pius VII. auf, um seine interimistische Diözesanverwaltung des Bistums Münsters kirchenrechtlich wieder zu erlangen. Bestärkt durch ein päpstliches Breve begann Clemens August Droste ab März 1815 in Münster mit dem Widerruf seiner Substitution an Spiegel, die Bistumsleitung wieder übernehmen zu wollen. Dabei geriet Clemens August Droste in einen schweren kirchenpolitischen Streit mit dem preußischen Zivilgouverneur und anschließenden Oberpräsidenten, Ludwig Freiherr von Vincke (†1844). Deshalb verhängte Oberpräsident Vincke am 6. Mai 1815 ein „Amtsverbot“ gegen Clemens August Droste „bis zur höheren Ortes nachgesuchten Anerkennung“.35
Während die preußische Regierung in Berlin zögerte, diesen delikaten Konflikt zwischen ihrem westfälischen Oberpräsidenten und dem geheim, aber päpstlich bestätigten Kapitularvikar Clemens August Droste zu entscheiden, wissen wir, dass Ende Juli 1815 bei Oberpräsident Vincke der Plan gereift war, durch eine vom Papst zu erwirkende Bestellung des ihm persönlich bekannten – und anscheinend mit dem kleinen Bistum Corvey nicht ausgelasteten – Fürstbischofs Ferdinand Lüning für das Bistum Münster den von ihm bekämpften Kapitularvikar Clemens August Droste legitim von der Münsterer Diözesanverwaltung auszuschließen. Damit wurde die Besetzung des Münsterer Bischofsstuhls in den unter dem preußischen Gesandten Barthold Georg Niebuhr (†1831) nur zögernd angelaufenen Konkordatsverhandlungen zwischen Preußen und dem Heiligen Stuhl ab Mitte des Jahres 1816 zu einem Präzedenzfall.36
In dem vom preußischen Staatskanzler Friedrich von Hardenberg (1810-†1822) sogar dem König Friedrich Wilhelm III. (1797-1840) vorgelegten „Münsterer Kirchenstreit“ rang sich die Berliner Regierung am 30. August 1815 gegen ihren westfälischen Oberpräsidenten zu einer „vorläufigen“ preußischen Anerkennung des Kapitularvikars Clemens August Droste für das Bistum Münster durch. Aber am 10. Dezember 1815 stellte der preußische Gesandte Niebuhr in einer Note an den päpstlichen Kardinalstaatssekretär Ercole Consalvi den Antrag, in dem schwierigen Fall des Bistums Münster nicht auf „eine Postulation durch das unberechenbare“ wiederhergestellte alte Münsterer Domkapitel zu setzen. Vielmehr möge Papst Pius VII. in diesem „außerordentlichen Fall das ihm zur Verfügung stehende außerordentliche Mittel“ einsetzen, nämlich selbst den Corveyer Bischof Lüning für Münster zu ernennen, unbeschadet des Wahlrechtes des Münsterer Domkapitels für zukünftige Wiederbesetzungsfälle. Die päpstliche Kurie prüfte diesen außerordentlichen preußischen Antrag gründlich und legte ihn sogar Papst Pius VII. persönlich vor. So kam man in der Kurie zur Überzeugung, dass dem preußischen Hof an einer vorgezogenen und schnellen Regelung des Konfliktfalles um die Münsterer Bistumsleitung gelegen war. Um die preußische Seite für die anstehenden allgemeinen Konkordatsverhandlungen