Jerusalem wird von den Juden als „heiliger Ort“ betrachtet, denn König David hat die Bundeslade hierherbringen lassen (vgl. 2 Sam 6,12). Sie war Zeichen für die Gegenwart Gottes unter seinem Volk. Als Salomo den Tempel gebaut hatte, wurde die Bundeslade in das Allerheiligste des Tempels übertragen, der damit zu einem geheiligten Ort wird. Bei der Zerstörung des Tempels und der Bundeslade weicht allerdings die Gegenwart Gottes nicht mehr von diesem Ort, sagt der Talmud.
Die Erfahrung des Exils lehrt das Volk Israel, dass Gott überallhin mitzieht: Er zog mit ihnen aus Ägypten durch die Wüste ins Verheißene Land, dann weiter ins Exil und wieder nach Hause. Er ist nicht an einen Berg gebunden, er wohnt nicht in einem Haus, er ist nicht „eingesperrt“ in einem Tempel, der auch zu klein ist – er ist immer bei seinem Volk, sei es in der Wolke oder in der Feuersäule (Ex 14,19–24), sei es unter dem Zelt: Alles sind Zeichen der mitgehenden Gegenwart Gottes. Der Gedanke, dass Gott mit seinem Volk überallhin mitzieht, ist sehr tröstend. Jesus selbst sagt nach dem Johannesevangelium, dass Gott überall „im Geist und in der Wahrheit angebetet“ werden kann (Joh 4,21). Auch die Wallfahrt zu noch so heiligen Stätten macht den Pilger nicht automatisch heiliger, sondern nur ein tugendhaftes Leben – und das kann jeder zu Hause üben (so der Kirchenlehrer Hieronymus).
Warum gibt es dann aber geheiligte Orte, die nicht verrückbar sind, sondern fix und unbeweglich? Und warum ist gerade Jerusalem ein solch geheiligter Ort? Für mich lautet die Antwort: Weil dort Jesus Christus gelebt hat, gestorben und auferstanden ist. So wie die Zeit seines Lebens nicht versetzbar ist, so sind auch die Orte, an denen er gelebt hat, nicht austauschbar. Diese Ereignisse haben hier „statt“-gefunden und nicht woanders, diese zeitlich bestimmten Vorgänge lassen sich auch nicht anderswohin verschieben oder kopieren.
Jerusalem ist ein von Gott „geheiligter“ Ort, nicht naturhaft, animistisch heilig. Zugleich ist er ganz irdisch – nicht eine geistige, göttliche Wirklichkeit, er ist und bleibt eine irdische Wirklichkeit. Im Himmel wird es keine bestimmten „geheiligten“ Orte mehr geben, denn alles ist geheiligt (Offb 21,22–23).
Christlich ist kein Ort unberührbar, kein Platz unantastbar. Alles ist antastbar, denn die ganze Schöpfung ist von Gott gemacht und von ihm gesegnet – ohne Ausnahme. Auch Jesus lässt sich berühren (vgl. Mk 5,30–34; 1 Joh 1,1). Er berührt blinde Augen (Joh 9,5); er nimmt an der Hand, er segnet Kinder. So können auch wir zu diesen sinnlich fassbaren Steinen und Stätten pilgern, das Leben Jesu betrachten und ihn um seinen Segen bitten.
Jerusalem ist für mich zugleich auch eine Metapher für einen großen Traum, für eine Vision, wie sie sich beim Propheten Jesaja (Jes 24,6–8) findet oder im letzten Buch des Neuen Testaments, wo vom „neuen Jerusalem“ erzählt wird (Offb 21,2): die Vision von der Vollendung bei Gott, wo er mitten unter den Menschen wohnen wird (Offb 21,3), die Stadt, die erfüllt sein wird von der Herrlichkeit Gottes (Offb 21,11), wo es „keine Nacht mehr geben wird“ (Offb 22,5) und keine Sonne, „denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie, und ihre Leuchte ist das Lamm“ (Offb 21,23). Jerusalem steht als Bild für dieses Ziel meiner Sehnsucht nach Heilsein, nach Frieden und Gerechtigkeit. Die aktuelle Realität steht aber gerade im krassen Gegensatz dazu. Man kann daher dieses irdische Jerusalem nicht mit dem „himmlischen Jerusalem“ der Vision verwechseln. Deshalb gefällt mir dieses Bild so gut. Wäre dieses irdische Jerusalem eine friedliche prosperierende, wohlhabende Stadt, könnte vielleicht jemand auf die Idee kommen, das wäre jetzt schon das „Paradies auf Erden“. Und gerade das ist nicht der Fall. (fm)
Auf Menschen zu
Eine der Fragen am Eröffnungswochenende unserer Pilgerveranstaltungen im Lassalle-Haus war: Wie macht ihr es mit den Sprachen, wenn ihr durch so viele Länder lauft? Wie könnt ihr euch mit den verschiedenen Menschen verständigen? Ja, diese praktische Frage haben wir uns durch den Kopf gehen lassen. Für mich ist die Begegnung mit anderen Menschen ein großes Anliegen. Die erste Sprache sind wohl die Gesten mit Gesicht, Händen und Füßen. Ich erwarte nicht von selbst, dass die anderen immer meine Sprache verstehen oder gar sprechen. Mir sind die Achtung und der Respekt vor dem anderen wichtig. Ein Ausdruck dafür ist auch, dass ich versuche, die Sprache des anderen zu verstehen, zu erlernen und vielleicht darin auch zu kommunizieren. In aller Regel wird das sehr geschätzt und mit Freude wahrgenommen, das ist eine sehr schöne Erfahrung. Deshalb besuche ich seit einigen Wochen einen Sprachkurs für Arabisch. (fm)
Die Route und das GPS
In den Vorbesprechungen vereinbaren wir, dass ich für die Routenplanung zuständig bin. Es ist für mich schön, eine bestimmte Aufgabe für unser Vorhaben zugesprochen zu bekommen, die gleichzeitig mit der Freude verbunden ist, den anderen eine Arbeit abnehmen zu können.
Zunächst ist zu klären, welchen Weg wir nehmen wollen. Sollen wir in Süditalien mit der Fähre nach Griechenland übersetzen oder den Weg durch das ehemalige Jugoslawien wählen? Ich setze mich für die „Balkanroute“ ein, weil ich finde, wir sollten besonders auch für diese Region um Frieden und Versöhnung beten, wo vor gut zwanzig Jahren noch blutiger und mörderischer Krieg herrschte.
So mache ich mich auf die Suche nach Wanderkarten für unseren vorgesehenen Weg. Es stellt sich heraus, dass es bis Slowenien und für ein paar Nationalparks in Kroatien Wanderkarten gibt, anschließend gibt es nur noch Straßenkarten, die einem Fußwallfahrer lediglich sehr bedingt hilfreich sind, denn wir wollen gerade die großen Verkehrsadern meiden und dem Schwerverkehr ausweichen.
So stelle ich um auf elektronische Routenplanung und erfahre, dass die nötigen detaillierten Karten für Serbien gerade in einer fortgeschrittenen Entstehungsphase, für die Türkei über eine grobe Autokarte nicht hinausgekommen sind. Für Syrien und Jordanien gibt es keine GPS-Karten zu kaufen. Ich schreibe nach Belgrad und Sofia, um diese Karten zu erwerben. Im Internet entdecke ich eine große Menge von Hilfsmitteln, insbesondere Velokarten, die für uns Fußgänger sehr nützlich sind.
Mehr als ein Jahr vor dem Start kaufe ich ein GPS-Navigationsgerät, damit ich während des Sommers in den Ferien den Umgang damit üben kann. Bald habe ich den Verdacht, dass irgendetwas an dem Gerät nicht funktioniert, allerdings gibt es den Geist erst im Herbst auf. Ich bekomme ein neues Ersatzgerät, das jedoch nicht einmal den ersten Probelauf übersteht. So erhalte ich ein drittes Gerät, mit dem ich einen neuen Testlauf mache. Mit unsicherem Gefühl im Bauch breche ich schließlich nach Jerusalem auf, denn nach zwei fehlerhaften Geräten kann ich nur wünschen, dass dieses jetzt funktionieren wird, hoffentlich bis zum Ende der Wallfahrt – sehr wahrscheinlich scheint das nicht!
Das Ziel der Planung ist, für die gesamte Route einen möglichst kurzen und gangbaren Weg zu finden. Diesen muss ich in Tagesetappen zu 25 bis 30 km unterteilen. Zugleich versuche ich, Wege zu entdecken, auf denen möglichst wenig Autoverkehr ist, die in überschaubaren Abständen durch Siedlungen führen, damit wir uns mit Trinken und Essen versorgen können. Am Ende jeden Tages sollten wir in einen Ort kommen, wo wir eine Unterkunft erfragen können.
Überschlagsmäßig wird der Weg etwa 4300 km lang werden. Das sind vielleicht 170 Tagesetappen. Diese durchzurechnen, jede Abzweigung und Kreuzung, alle Wegverhältnisse und Steigungen zu erkunden ist meine Aufgabe. Dazu kommt, dass auch die GPS-Karten fehlerhaft sind, manchmal unvollständig und nicht auf dem aktuellsten Stand. Google-Earth hilft oft, aber auch da sind manche Satellitenbilder unscharf, man sieht nicht, ob eine Brücke über ein Bächlein oder einen Kanal führt. Oder unser Weg liegt auf dem Bild gerade im dunklen Schatten eines Berges oder im Wald und nichts ist zu erkennen.
Wenn ich ausfalle, was wird sein? Niemand anderer weiß mit dem Gerät und den Routen umzugehen. Vom Ehepaar Zecher, das zwei Jahre vorher von Deutschland nach Jerusalem gelaufen ist, habe ich GPS-Tracks und die Liste der Unterkünfte bekommen. Erst in Bulgarien trifft unsere Route auf die ihre. Ab da hilft mir ihre Information sehr viel. Dafür bin ich dankbar. Zugleich bemerke ich, dass ihre Karte eine Generation älter war und noch