Einzelne Jurisdiktionsgebiete und Regionen sind bereits Gegenstand eingehender Forschung gewesen. Für den östlichen Anteil der Diözese Osnabrück – das spätere Bischöfliche Kommissariat Schwerin – liegt mit der „Chronik des Bischöflichen Kommissariates Schwerin 1946-1973“ eine fundierte Darstellung der Migrationsbewegungen und der damit einhergehenden Probleme für die katholische Kirche in Mecklenburg vor.47
Dr. Martin Holz erforschte in seiner Dissertation das Wachstum der katholischen Diasporagemeinden und die sich daraus ergebenden neuen Perspektiven für die katholische Kirche auf der Insel Rügen. Die Monographie stellt exemplarisch die Untersuchung eines geschlossenen Gebietes – hier bedingt durch die Insellage – dar.48
In meiner Diplomarbeit habe ich die Problematik der Heimatvertriebenen in der katholischen Ankunftsgesellschaft des Eichsfeldes erforscht, das durch seine katholische Bevölkerungsmehrheit eine Besonderheit in der durch die Diasporasituation gekennzeichneten Kirche in der SBZ/DDR darstellt. Innerhalb des Migrationsgeschehens war dieses Gebiet durch seine exponierte Grenzlage besonders betroffen. Die Studie betrachtete vor allem die Rolle der katholischen Kirche und ihren Einsatz für die Flüchtlinge; eine Beheimatung der Vertriebenen in die homogene Welt des katholischen Eichsfeldes gelang trotz aller Bemühungen nicht.49
Weitere Monografien behandeln die Heimatvertriebenen, vernetzen das Thema aber nicht breit genug oder marginalisieren die integrationshemmenden Interessenkonflikte. Wolfgang Tischner50, der eine Studie über die Anfangsjahre der katholischen Kirche in der SBZ/DDR vorlegte, erwähnt den Zuwachs der Katholiken nach 1945 auf dem Gebiet der SBZ/DDR, wobei er den Integrationsprozess der Vertriebenen in die bestehenden Gemeinden als problemlos bezeichnet. Er bezieht die Thematik einer Beheimatung der heimatlos Gewordenen nicht als solche ein, obwohl er mehrfach die Veränderung der Großgruppe der Katholiken durch den Zustrom von Flüchtlingen und Vertriebenen anführt.
Vor allem das Verhältnis Staat-Kirche stellt Birgit Mitzscherlich51 in ihrer Dissertation über das Bistum Meißen 1933 bis 1951 in den Vordergrund. Der Flüchtlingsproblematik widmet sie nur wenige Textseiten. Dabei streift sie lediglich kursorisch kirchliche und staatliche Eingliederungsmaßnahmen.
Ulrike Winterstein beschreibt in ihrer Dissertation den vertriebenen Klerus im Aufnahmeland Sachsen und betrachtet das Thema unter dem Aspekt der Elitenforschung.52 Die Selbst- wie auch Fremdwahrnehmung der „Ostpriester“ war jedoch weit davon entfernt, sich als „Führungselite“ zu verstehen. Den heimatvertriebenen Klerus als „Elitegruppe“ zu bezeichnen, scheint auch deshalb unangebracht, da dieser Terminus, der soziologische Wurzeln hat, in den Quellen selbst nicht vorkommt und auch sonst kaum das Wesen und Selbstverständnis der heimatvertriebenen Geistlichen trifft.
Biografische Zugänge zur Thematik wählten mehrere Autoren. Konrad Hartelt stellte drei heimatvertriebene Schlesier und spätere Protagonisten der katholischen Kirche in der SBZ/DDR mit je einer Monografie näher vor: Kapitelsvikar Dr. Ferdinand Piontek53 und Prälat Dr. Joseph Negwer54, die beide in Breslau führende Ämter inne hatten und nach der Vertreibung in Mitteldeutschland tätig wurden. Auch der spätere Kapitelsvikar und Bischof von Dresden-Meißen, Gerhard Schaffran, stammte aus Schlesien und wurde zu einer prägenden Gestalt des mitteldeutschen Katholizismus. Einem Teil seines Lebens widmet Hartelt eine Biografie.55 Sebastian Holzbrecher stellte in seiner Diplomarbeit das Schicksal des letzten deutschen Weihbischofs in Breslau, Joseph Ferche, dar, der nach einem kurzen Aufenthalt in Thüringen in Köln ansässig wurde.56 Unverkennbar ist bereits hier der Einfluss der Schlesier auf Leben, Wirken und Struktur der katholischen Kirche in der SBZ/DDR; einen Überblicksartikel zu dieser Tatsache verfasste der Erfurter Pastoraltheologe Franz-Georg Friemel.57
Allgemeinhistorische Darstellungen sowie vernetzende Gesamtüberblicke zur Flüchtlings- und Eingliederungsforschung speziell für Thüringen liegen bislang kaum vor. Über die gesamte SBZ/DDR informiert das umfassende Standardwerk von Michael Schwartz.58 Lediglich Manfred Wille, ehemaliger Professor für Zeitgeschichte in Magdeburg und Vorreiter bei der Erforschung der Vertriebenenproblematik in der DDR, veröffentlichte 2006 eine Monografie, die die Aufnahme und Eingliederung der Heimatvertriebenen in Thüringen dokumentiert.59 Der eigentliche Text der Darstellung umfasst nur 37 Seiten, ein umfangreicher Dokumentenanhang schließt sich an. Seine Mitarbeiterin Steffi Kaltenborn legte 1989 ihre Dissertation „Die Lösung des Umsiedlerproblems auf dem Territorium der Deutschen Demokratischen Republik dargestellt am Beispiel des Landes Thüringen (1945-1948)“ vor.60 Sie ist im Stil und Duktus einer DDR-Abschlussarbeit verfasst, steht innerhalb des Grundrahmens des SED-Geschichtsbildes und wurde nie publiziert, obwohl die Arbeit eine Fülle an neuen Erkenntnissen liefert. Die Verfasserin schrieb aber einige Aufsätze, die sich thematisch an die Dissertation anlehnen61, einen längeren über die Wohn- und Lebensverhältnisse der Vertriebenen in Thüringen62 sowie über die Ansiedlung Gablonzer Industrie im Kreis Gotha.63
Innerhalb der volkskundlichen Erzählforschung Thüringens rücken seit 1995 die Heimatvertriebenen stärker in den Fokus der Betrachtung. Ein erster Aufsatz64 von Gudrun Braune sowie ein umfangreicher Band mit neun biografischen Skizzen geben Einblicke in die Lebenswelt von Flüchtlingen und Vertriebenen auf der Basis von Zeitzeugeninterviews.65 Lebensgeschichtliche Erinnerungen von Vertriebenen über die Ankunft in Thüringen liegen mehrfach gedruckt vor.66
Einige wenige Ortschroniken und Stadtgeschichten haben in letzten Jahren die Vertriebenenproblematik aufgegriffen und auf breiterem Raum dargestellt.67 Allerdings spielen in den meisten gedruckten Ortschroniken Thüringens die Heimatvertriebenen oft nur insofern eine Rolle, wie sie zum quantitativen Wachstum der Dorfbevölkerung beitrugen. Über den Modus der Ankunft, Aufnahme und über integrationshemmende Interessenkonflikte wurde wenig oder kaum geforscht. Andere Publikationen vernachlässigen das Thema ganz.68 Der seit dem Fall der Mauer sich auch in Thüringen etablierende „Bund der Vertriebenen“ förderte einige regionalgeschichtliche Publikationen: Der Kreisverband Arnstadt im Bund der Vertriebenen veröffentlichte 2000 eine Dokumentation über die Eingliederung der Heimatvertriebenen im Landkreis Arnstadt, die viele Fotos, Zeitzeugeninterviews und Dokumente enthält.69 Der Bund der Vertriebenen Thüringen gab 2001 das Buch „Heimatvertriebene Künstler in Thüringen“ heraus, das 30 verschiedene Biografien und Werke beschreibt.70
Was bisher fehlt, sind detaillierte Untersuchungen und Darstellungen des „Vertriebenenproblems“ im kirchlichen Bereich für einzelne Territorien unterschiedlicher konfessioneller und struktureller Art auf dem Gebiet der SBZ/DDR. Die vorliegende Arbeit kann dazu beitragen, diese Forschungslücke zu füllen, da sie exemplarisch Flüchtlings- und Eingliederungsforschung für den Ostteil des Bistums Fulda betreibt.
1.3 Territoriale und zeitliche Eingrenzung
Als Untersuchungsgebiet wurde der östliche Anteil der Diözese Fulda gewählt, zu dem das Eichsfeld, die Rhön, die Stadt Erfurt und die thüringische Diaspora seit 1929 gehörten.71 Durch die Errichtung der Interzonengrenze 1945 wurde die Diözese geteilt: der Bischof residierte im westlichen Teil, während der östliche Bistumsanteil von ihm getrennt war und unter sowjetischer Verwaltung stand. Die pastoralen und gesellschaftlichen Entwicklungen in diesem Bistumsteil verliefen aufgrund politischer Entwicklungen und antikirchlicher Maßnahmen des totalitären SED-Systems grundlegend verschieden von denen im Westen.72 Diese Kluft wurde bereits während der Besatzungszeit sichtbar, verschärfte sich zusehends mit der deutschen Staatenbildung: der Ostteil des Bistums gehörte ab 1949 zur DDR, der Westteil zur Bundesrepublik. Unter Angliederung des Bischöflichen Kommissariates Meiningen und gleichzeitiger Abspaltung der Rhön entstand aus pastoralen Gründen aus dem östlichen Fuldaer Diözesananteil 1994 das Bistum Erfurt.73 Deshalb ist es legitim und notwendig, den Ostteil des Bistums Fulda im Hinblick auf das Einströmen der katholischen Heimatvertriebenen und die damit verbundenen neuen Akzentsetzungen sowie Umstrukturierungen zu untersuchen.
Die zeitliche Eingrenzung erweist sich als evident: Ein Anfang wurde mit dem Jahr