Der Zustrom dieser Heimatvertriebenen in das Territorium der SBZ ließ die Gesamtzahl der Katholiken hier nahezu verdreifachen.15 Auch in Thüringen16 war quasi „über Nacht“ eine neue, anders geartete Diaspora17 entstanden. Jurisdiktionell gehörte der Großteil dieses noch recht junge Landes18 zum Bistum Fulda19, dessen östlicher Diözesananteil seit der Reformation – mit wenigen Ausnahmen – protestantisch geprägt war.20
Dieser Ostteil des Bistums Fulda stellte sich 1945 recht heterogen dar. Es lassen sich vier Gebiete verschiedener Struktur und Tradition unterscheiden: das Eichsfeld, die Rhön, die Stadt Erfurt und die „thüringische Diaspora“.
- Das Obereichsfeld21 und Teile der Rhön (Dekanat Geisa)22 waren geschlossen katholische Gebiete, die inmitten eines evangelischen Territoriums wie Inseln lagen. In diesen beiden Landstrichen wohnte vor Flucht und Vertreibung zusammen mehr als die Hälfte der katholischen Stammbevölkerung.
- Die Stadt Erfurt und fünf sie umgebende so genannte „Küchendörfer“ gehörten bis 1802 zum Erzbistum Mainz.23 Die Anzahl der Katholiken war im Vergleich zu den sie umgebenden Territorien höher.
- Das übrige Thüringen war Diaspora24 mit einer sehr geringen Katholikenzahl.25
Nachdem im 19. Jahrhundert ein Teil dieses Gebiets (preußische Provinz Sachsen, Herzogtum Gotha, Fürstentümer Schwarzburg-Rudolstadt und Schwarzburg-Sondershausen) zum Bistum Paderborn, ein anderer Teil (Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach) zum Bistum Fulda gehört hatte, erfolgte durch das „preußische Konkordat“ von 1929 die Eingliederung des gesamten Gebietes in das Bistum Fulda.26
Vor dem Einsetzen der Migrationsströme lebten etwa 133.000 Katholiken in diesem Gebiet; nach Vertreibung und Zwangsaussiedlungen stieg die Zahl der Katholiken bis 1949 auf 444.000 an, was einer Steigerung von über 234 % entspricht.27 Durch diesen Zuzug von katholischen Christen änderte sich das Profil der katholischen Kirche in Thüringen grundlegend und wurde in besonderem Maße von den Vertriebenen geprägt.28
Einer zwangsläufig überforderten kirchlichen Verwaltung und damit auch der geordneten Seelsorge hat das plötzliche Hereinströmen so vieler Katholiken verständlicherweise erhebliche Schwierigkeiten bereitet, die sich durch die Errichtung der Interzonengrenze und die Abtrennung vom Westteil des Bistums und dem dort residierenden Ortsordinarius noch vermehrten.29 Neben diesem von der alliierten Besatzungsmacht errichteten und von der SED stetig ausgebauten Grenzregime bestimmten weitere politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen von Anfang an nahezu die gesamte Existenz kirchlichen Lebens in der SBZ und DDR.30
Bezüglich der Heimatvertriebenen führte dies zu zahlreichen Reglementierungen des öffentlichen Lebens. So gab es eine offizielle Sprachregelung, die die Benennung der Zugezogenen festlegte: Von den Sowjets selbst wurde noch 1945 die verharmlosende Bezeichnung „Umsiedler“ für den amtlichen Sprachgebrauch der SBZ verbindlich vorgeschrieben, den das SED-Regime der DDR schon 1950 zum „ehemaligen Umsiedler“ verschärfte, um anzudeuten, dass das so bezeichnete Problem bereits so gut wie gelöst sei. Im Amtsdeutsch der Länder Thüringen und Sachsen florierte zusätzlich der Begriff des „Neubürgers“, der jeden Bezug auf die Flucht oder verlorene Heimatgebiete ausblendete. Der sich in der Bundesrepublik ab 1949 durchsetzende Terminus der „Vertriebenen“ bzw. „Heimatvertriebenen“ wurde von der DDR-Regierung stets als „revisionistisch“ eingestuft und durfte unter keinen Umständen Verwendung finden.31
Jeder Sammelbegriff für die Heimatvertriebenen und Migranten ist jedoch zwangsläufig verkürzend. Die vorliegende Studie bevorzugt einen pragmatischen Umgang mit der komplizierten Terminologie: Es wird – neben den in Anführungszeichen gesetzten staatlichen Begriffen32 – der Terminus „Flüchtling“ benutzt, da er vermehrt in Akten kirchlicher Provenienz, die weitgehend die schwerpunktmäßige Forschungsgrundlage vorliegender Untersuchung ausmachen, auftaucht. Synonym dazu steht der „Vertriebenen“-Begriff, – er wird überwiegend gebraucht – der sechs Jahrzehnte nach seinem Entstehen eine semantische Umformung erfahren hat, bei der es nicht mehr um eine Revisionshoffnung geht, sondern um Anerkennung: „Es geht um die nach wie vor nicht selbstverständliche Anerkennung der Tatsache, daß die Vertreibung der Deutschen nach 1945 ein Unrecht war, das mit vorangegangenen noch schlimmeren deutschen Verbrechen zweifellos erklärt, aber eben nicht gerechtfertigt werden kann.“33
1.2 Forschungsstand
Die zeitgeschichtliche Katholizismusforschung für den Bereich der SBZ/DDR kennt bisher nur wenige fundierte Untersuchungen über die (katholischen) Heimatvertriebenen und ihre Eingliederung. Die reichhaltigeren Forschungen aus dem bundesdeutschen Gebiet können bei der Betrachtung der Eingliederungsprozesse Vertriebener im Ostteil des Bistums Fulda wohl nur zum Vergleich herangezogen werden.34 Als Vorlage oder Strukturierungshilfe für die mitteldeutsche Thematik können sie nicht direkt und unmittelbar dienen, da mit der SBZ/DDR eine besondere politische und gesellschaftliche Situation existierte, in die die „Vertriebenenproblematik“ involviert ist. Allgemeingeschichtliche Untersuchungen zu diesem Thema sind zudem nur partiell für eine kirchengeschichtliche Darstellung brauchbar, da sie die Gesamtthematik unter anderen Aspekten behandeln und die katholische Kirche – wegen ihres Minderheitsstatus’ – oft nur am Rande erwähnen. Für die evangelische Zeitgeschichtsschreibung fehlen Ausführungen für Thüringen gänzlich; die zahlreichen Monografien und Sammelbände, die die Nachkriegszeit thematisieren, beschreiben vor allem das Verhältnis von Staat und Kirche35 – dabei besonders den „Thüringer Weg“36 – sowie die kirchliche Neuordnung Thüringens inklusive der „Entnazifizierung“37.
Die Thematik der katholischen Vertriebenen in der SBZ/DDR griff als erster Josef Pilvousek 1993 auf.38 Er stellte zunächst statistische Daten vor, die die extremen Verschiebungen innerhalb der katholischen Kirche in diesem Bereich aufzeigten, und untersuchte Integrationsversuche der Ortskirche. Sein Fokus lag darüber hinaus auf der Problematik des Bleibens. Auf regionale Besonderheiten bzw. eine tiefer gehende Betrachtung der genauen Vorgänge konnte Pilvousek in diesem ersten Übersichtsartikel nicht näher eingehen. Weitere Artikel Pilvouseks sollten das Forschungsfeld der katholischen Heimatvertriebenen in der SBZ/DDR weiter ergänzen.
Die von ihm 1995 eingeführte Prozessbeschreibung „Von der ‚Flüchtlingskirche‘ zur ‚Katholischen Kirche in der DDR‘“39 charakterisiert wohl den mitteldeutschen Katholizismus treffend, jedenfalls wird der Begriff der „Flüchtlingskirche“ seither von zahlreichen anderen Autoren benutzt.
Das methodische Vorgehen und die zu verwendende Terminologie wurden in einem Grundlagen-Aufsatz konkretisiert.40 Darin favorisiert Pilvousek für die Katholizismusforschung in der SBZ/DDR den Begriff der „Beheimatung“ anstelle des Integrations-Terminus. 2009 gab er zusammen mit Elisabeth Preuß einen Sammelband zu dieser Thematik heraus, wobei auch staatliche Integrationsversuche Berücksichtigung fanden.41
Verschiedene Aufsätze und Artikel beschreiben Einzelaspekte der Eingliederung der katholischen Vertriebenen und ihrer Priester näher. 2009 schrieb Pilvousek über Gottesdiensträume und Seelsorger als drängendste Probleme der katholischen Kirche der Nachkriegszeit,42 im selben Jahr über die hl. Hedwig von Schlesien und ihre Verehrung in der SBZ/DDR.43 Den besonderen Lebensschicksalen heimatvertriebener Priester wandte er sich 2009 in einem Aufsatz in der „Römischen Quartalschrift“ zu.44 Über die evakuierten katholischen Rheinländer während des Zweiten Weltkrieges im Gau Thüringen45 sowie über die Schwierigkeiten und Chancen katholischen