Mittelalter und Renaissance
Im sich ausbreitenden Christentum gab es ebenfalls eine Reflexion über den Sterbeprozess. Sie zeigte sich eher als christlich eingefärbtes Nachdenken über die individuelle Gestaltung des Sterbens als Vorbereitung auf die eschatologische Gottesschau. Der sterbende Gläubige wurde im Moment des bevorstehenden Todes zu einer umfassenden moralischen Selbstprüfung aufgerufen, um Seele und Gewissen auf noch existierende, d. h. ungebeichtete Sünden hin zu ergründen. Diese letzte Chance sollte erkannt und genutzt werden, um für jene Vergehen, die „den Zutritt in den Himmel erschweren oder diesen ganz und gar unmöglich machen“9, Reue zu zeigen und womöglich Buße zu tun. Ziel war es, ungeachtet der bisherigen Lebensführung dem postmortalen Weg einen anderen Verlauf zu geben.10 Dieser Reflexionsprozess wurde jedoch nicht mit dem Begriff euthanasia bezeichnet, sondern unter dem Oberbegriff ars moriendi (Sterbekunst) zusammengefasst. Dahinter verbarg sich das theologische Verständnis, dass der Gläubigen „ewiges Geschick von ihrer sittlichen Verfassung in der Todesstunde abhinge.“11 Der Euthanasiebegriff verschwand für die folgenden Jahrhunderte in der Versenkung und erfuhr erst in den utopischen Schriften der Renaissance vor allem durch Thomas More (1478-1535) und Francis Bacon (1561-1626) eine Wiederbelebung.12
In Utopia beschrieb More die aktive Herbeiführung eines guten Todes als vernünftige Handlung am Lebensende, wenn „trotz optimaler Pflege und medizinischer Versorgung eine Genesung nicht mehr zu erreichen ist.“13 Er zeichnete einen Kontext, in dem Menschen an einer schweren, zum Tode führenden Krankheit litten, und unerträglichen Schmerzen geplagt wurden, den Aufgaben des Lebens nicht mehr gewachsen waren oder aber anderen zur Last fielen.14 Obwohl More den Euthanasiebegriff selbst nicht verwendete, transferierte er als erster Autor die Thematik von einer rein deskriptiven auf eine handlungsorientierte Ebene.15 Ein Jahrhundert später war es Francis Bacon, der den More’schen Ansatz im Horizont der Neuordnung der Wissenschaften und der Frage nach Stand und Möglichkeiten der Medizin16 aufgriff und mit dem Euthanasiebegriff in Verbindung brachte. Es forderte für die unheilbar Kranken ein schmerzloses Sterben, indem die Ärzte mithilfe einer medikamentösen Schmerzlinderung ein „schönes und leichtes Hinscheiden […] bewirken“17. Eine bewusste Herbeiführung des Todes subsumierte er unter dem Begriff Euthanasie nicht.
Das erneute Aufkommen des Euthanasiebegriffs steht in Verbindung mit dem immensen Entwicklungsschub der zeitgenössischen Medizin, der von tiefgreifenden Erkenntnissen bezüglich der menschlichen Anatomie, des Herz-Kreislauf-Systems, der Funktionalität der Organe und der diagnostischen Möglichkeiten begleitet war.18
Aufklärung
Mit der Aufklärung begann innerhalb der medizinischen Wissenschaft eine Reflexion des Euthanasiebegriffs und der zugrunde liegenden Handlungen. Während die aktive Herbeiführung des Todes auch trotz starker Schmerzen gänzlich abgelehnt wurde, gestaltete sich um Bacons Verständnis von Euthanasie als eine für Ärzte verpflichtende palliativmedizinische Sterbebegleitung eine rege Diskussion. Bacon rezipierend prägte der Mediziner Zacharias Philippus Schulz (Lebensdaten unbekannt) den Begriff der euthanasia medica, unter der er die ärztliche Begleitung eines Sterbenden durch Grundversorgung und Schmerzmittelgabe verstand. Da er wiederum den in Kauf genommenen Tod aufgrund schmerzlindernder Medikamente im Gegensatz zu Bacon strikt ablehnte,19 steckten Bacons und Schulz’ Ansätze in der folgenden medizinethischen Diskussion über die Zulässigkeit einer Medikamentengabe zur Linderung der Schmerzen für die Gestaltung eines guten Todes den Rahmen ab. Als Befürworter von Bacons Thesen, die um die Jahrhundertwende breiter akzeptiert waren,20 sind beispielsweise Nicolaus Paradys (1740-1812) und Johann Christian Reil (1759-1813) zu nennen. Sie erachteten euthanasia als genuine Aufgabe des Arztes, den Tod so leicht, so erträglich als möglich zu machen.21 Es gab allerdings auch vereinzelte Positionen, die unter Euthanasie eine aktive Tötung auf Verlangen verstanden.22
Neben den medizinischen Erkenntnissen evozierte Charles Darwin (1809-1882), der mit seiner Evolutionstheorie und seinen empirischen Forschungsergebnissen der natürlichen Selektion in der Tierwelt23 „ein neues Fundament für die Bewertung von Lebenswert bildete“24, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Überlegungen über eine Ausscheidung des Schwachen den Euthanasiebegriff.25 In Applikation von Darwins Thesen auf den Staat als lebenden Organismus wurde der Begriff der Sozialeuthanasie im Sinne eines Aussortierens des schlechten Erbguts sowie eines Sterbenlassens der kranken, behinderten und schwachen Mitglieder der Gesellschaft geprägt. Diesbezügliche wissenschaftstheoretische Studien des Sozialdarwinismus26, der Eugenik27 und der Rassenhygiene28 haben letztlich der NS-Ideologie der Vernichtung lebensunwerten Lebens und der damit einhergehenden Pervertierung des Euthanasiebegriffs den gedanklichen Boden bereitet. Diese Theorien des späten 19. Jahrhunderts verfolgten dabei keine aktive Tötung im medizinischen Sinn als Erlösung von Schmerzen, sodass der Begriff eine außermedizinische, rassenhygienische Konnotation erfuhr.
Für die Zeit der Aufklärung und des sich anschließenden 19. Jahrhunderts ist festzuhalten, dass die starke medizinische Entwicklung einerseits zu Fragen über Möglichkeiten und Grenzen der Behandlungsansätze und Therapien führte. Konfrontiert mit der Evolutionstheorie Darwins und den darin gründenden Selektionstheorien menschlicher Gesellschaft zur Verbesserung der Rasse wurde der Euthanasiebegriff andererseits häufiger in die inhaltliche Nähe zur Gestaltung eines guten Todes für behinderte, schwache, kranke und alte Menschen gestellt, die die Rasse schwächten. Der Euthanasiebegriff wurde einem spürbaren Wandel unterzogen und fast gänzlich seiner deskriptiven Beschreibung eines guten Todes entzogen. Er diente vorwiegend als Synonym einer zugrundeliegenden, den Tod herbeiführenden Handlung zur Ausscheidung der Schwachen.
Entwicklungen im 20. Jahrhundert
Die Selektionstheorien über die Volksgesundung führten im Übergang zum 20. Jahrhundert zu einer rechtstheoretischen Reflexion hinsichtlich ihrer Umsetzung. In Deutschland legte der Rassenhygieniker Roland Gerkan einen Gesetzesentwurf vor, der für unheilbar Kranke „ein Recht auf Sterbehilfe (Euthanasie)“ vorsah.29 Gerkans Entwurf geht zu großen Teilen auf die Gedanken des Psychologen Adolf Jost (1874-1908) zurück, der auf Basis utilitaristischen und sozialdarwinistischen Gedankenguts für ein Recht auf Tötung auf Verlangen plädierte, indem er den individuellen Wert eines menschlichen Lebens für das Individuum als auch die Gesellschaft in einem Verhältnis von Nutzen und Kosten darstellte.30 Waren die Kosten für die Aufrechterhaltung des Lebens größer als dessen Nutzen, sah Jost aus Gründen menschlichen Mitleids ein Recht auf Tötung auf Verlangen gegeben.31 Unter Betonung des gesellschaftlichen Mitleids mit dem Kranken als auch des Nutzenfaktors für Individuum und Gesellschaft sprach sich auch Haeckel explizit für die Ausscheidung des Schwachen aus.32
Abschließend bereiteten der Jurist Karl Binding (1841-1920) und der Psychiater und Neurologe Alfred Hoche (1865-1943) mit ihrer theoretische Studie Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Mass und ihre Form33 den inhaltlichen Boden für die diffamierende Verwendung des Euthanasiebegriffs durch das NS-Regime.34
Binding vertrat die These, dass jeder ein Recht auf seinen Tod beanspruchen und an eine andere Person delegieren könne, weshalb der mit der Ausführung