„Am Anfang war das Wort ‚Zorn‘“156 – und die Tat, die Tat des Einzelnen, des Heros. Am Anfang der europäischen Literaturgeschichte war Achill. Ist er auch ein Modell nach dem „Ende der Geschichte“?
„Für die Alten war der Heroismus keine feinsinnige Attitüde, sondern die vitalste aller möglichen Stellungnahmen zu den Tatsachen des Lebens. In ihren Augen hätte eine Welt ohne Heldenerscheinungen das Nichts bedeutet […]. Der Heros […] liefert den Beweis, daß auch von menschlicher Seite her Taten und Werke möglich sind, sofern göttliche Begünstigungen sie zulassen – und allein als Tatentäter und Werkvollbringer werden die frühen Heroen gefeiert. Ihre Taten zeugen für das Wertvollste, was die Sterblichen, damals wie später, erfahren können: daß eine Lichtung aus Nicht-Ohnmacht und Nicht-Gleichgültigkeit in das Dickicht der naturwüchsigen Begebungen geschlagen worden ist. In Berichten von Taten leuchtet die erste gute Nachricht auf: Unter der Sonne ereignet sich mehr als das Gleichgültige und Immergleiche.“157
Achill ist kein Freund der Mittellagen und sicher kein ‚Schirmherr des Gewöhnlichen‘. Er „bewegt sich in einer von einem glücklichen Bellizismus ohne Grenzen erfüllten Welt“158, er „fährt in die Welt wie die Kugel in die Schlacht“159, „damit die Welt durch Neues und Rühmenswertes erweitert werde.“160 Achill steht für die Einheit von Wille und Tat, von Sinn und Zweck, menschlichem Antrieb und höheren Kräften, „die Konvergenz von Explosion und Wahrheit“161, für „die totale Expressivität“162, die „Identität des Menschen mit seinen treibenden Kräften“163, das „Einswerden mit dem puren Antrieb“164, „die Utopie des motivierten Lebens“165 in einer erfüllten Gegenwart166. Was für uns heutige, für die Alltagsmenschen unerreichbar ist, schickt sich ihm zu: Evidenz.167 Hier ist kein Platz für Zweifel, Zögern, Zagen: „Man versteht sofort, warum in solchen Augenblicken von zweiten Stimmen wenig zu hören ist.“168 Achill ist das Sehnsuchtsbild für alle, die der Sinnlosigkeit des Daseins, der angekränkelten Reflexivität, der Aufgabe der Begründung, der Diskussion eigener Grundsätze und fundamentaler Prinzipien entfliehen mögen, die „spüren, dass Diskussion nicht an sich gut ist, sondern allenfalls ein Zweitbestes. Wer sie nötig hat, dem fehlt das Beste: die sich von selbst verstehende Gewissheit, das wortlose Einverständnis. Und wer sehnte sich nicht danach?“169
Vielleicht, ja wahrscheinlich sehnten sich danach auch jene 19 Männer, die am 11. September 2001, bewaffnet mit Teppichmessern, eine Weltmacht herausforderten und in einen Zugzwang setzten, der die politische Weltlage bis heute bestimmt.170 Mehr noch, mit einer Formulierung Christoph Türckes: Sie suggerierten, dies Ersehnte zu haben.171 Kein Zweifel: Das Tun jener Männer war geschichtsmächtig. Aber haben sie wahrhaftig Taten vollbracht und Geschichte gemacht? Oder handelt es sich in einem fundamentalen Sinne um Untaten?
Im 21. Jahrhundert wüten die Menschen gegen die selbstverschuldete Ohnmacht, verschärft sich die aufgezeigte Dialektik von Selbstermächtigung und Ohnmacht. Wer wütet, verdrängt, was Kritik und Denken ihm angetan haben.172 Unterdrückt wird, was sich eigentlich nicht mehr unterdrücken lässt: Zweifel, die Zersplitterung unseres Daseins, das Dröhnen zweiter, dritter, vierter Stimmen, Reflexivität und Ambiguität. Eben deshalb mag der Terror sein Tun nicht überleben. Er fürchtet sich vor der Stille nach dem Knall. In ihrem Äther schwirren die Stimmen, die die Explosion übertönte. Das Martyrium als Selbstmordattentat ersetzt den Sinn, der in den Katastrophen des 20. Jahrhunderts verloren ging. Es zeugt vom Willen zum Untergang. Selbstmächtigkeit wird beschworen in ihrer letzten Preisgabe. Die Beschwörung der Evidenz und des machtvollen Agierens trägt aktiv nihilistische Untertöne – nicht nur beim nihilistischen Terror, der sich in das Gewand des Glaubens hüllt. Sie fanden sich in George W. Bushs apokalyptischer Endzeitrhetorik ebenso, wie sie aktuelle postdemokratische Prozesse prägen. Das Tun wird zum Selbstzweck und seine Macht beschworen, wo das Handeln zu einem Zweck unmöglich wurde.173 Nicht die Geschichte ist am Ende, aber offenbar die Hoffnung der Moderne, sie planvoll, gezielt gestalten zu können. Während seit der Neuzeit der Glaube verdampft, einen transzendenten Sinn aus der Geschichte herauslesen zu können, scheitert auch der Versuch der Moderne, einen Sinn in sie hineinzulegen. Das
„Auftauchen des Terrorismus […] darf gerade nicht als Indiz für eine ‚Rückkehr‘ der Geschichte verstanden werden. […] Insbesondere der sogenannte globale Terrorismus ist ein durch und durch posthistorisches Phänomen. Seine Zeit bricht an, wenn sich der Zorn der Ausgeschlossenen mit der Infotainmentindustrie der Eingeschlossenen zu einem Gewalttheatersystem für letzte Menschen verbindet. Diesem Terrortrieb einen geschichtlichen Sinn andichten zu wollen wäre ein makabrer Mißbrauch erschöpfter Sprachreserven.“174
Achill gibt es für uns nur noch, wie ihn Wolfang Petersens Film Troja erahnen lässt: als todessüchtigen Nihilisten175, dessen Tun in eins fällt mit seinem Untergang und dessen letzte Sehnsucht es ist, dass sein Name eine Zeit lang überdauert176. Mit Petersens Agamemnon: „The man wants to die.“
Sisyphos
„Eine Welt, die man – selbst mit schlechten Gründen – erklären kann, ist eine vertraute Welt. Aber in einem Universum, das plötzlich der Illusionen und des Lichts beraubt ist, fühlt der Mensch sich fremd. Aus diesem Exil gibt es keine Rückkehr, da es der Erinnerungen an eine verlorene Heimat oder der Hoffnung auf ein gelobtes Land beraubt ist. Diese Entzweiung zwischen dem Menschen und seinem Leben, zwischen dem Handelnden und seinem Rahmen, genau das ist das Gefühl der Absurdität.“177
Die metaphysische Revolte hat die Anker gelichtet, die Trossen zur alten Welt des Sinns gelöst. Sie mochte den Himmel entleeren, ja, jeden Gedanken an eine ‚Hinterwelt‘ untersagen, um die Bedingungen des Lebens in die eigene Hand zu bekommen178, wollte sich der Abhängigkeit entwinden, um „aus dem Schicksal eine menschliche Angelegenheit [zu machen]“179. „Wo Gott tot ist, bleiben die Menschen übrig, d. h. die Geschichte, die es zu verstehen und zu machen gilt.“180 Auf sich allein ge stellt, galt es, sie mit allen Mitteln zu machen.181 „Mordtaten ohne Zahl“182 waren die Folge der historisch-gesellschaftlichen Exekutionen der metaphysischen Revolte. Von ihr werden wir „fortan nur den moralischen Nihilismus und den Willen zur Macht zurückbehalten.“183 Wir haben uns unser Schicksal bereitet.184 Es erwuchs aus unseren Handlungen – und ist uns doch transzendent. Wir leben in einem Zustand aufgeklärter Unaufklärbarkeit, im Wissen transparenter Opakheit, in der Entzweiung von Sinn und Zweck, Wissen und Tun, Tun und Ergehen, von dem, was wir tun, und dem, was geschieht.
„Das Reich der Gnade ist besiegt, aber dasjenige der Gerechtigkeit fällt auch zusammen. Europa stirbt an dieser Enttäuschung.“185 Und es glaubt „nicht mehr an das, was ist, an die Welt und den lebendigen Menschen; das Geheimnis Europas ist, daß es das Leben nicht mehr liebt.“186 Und „die Opfer sind in die schlimmste aller Mißgunst gefallen: sie langweilen.“187
Wir sind des Lichts, aber auch der Illusionen beraubt. Wir sind im Exil, uns bleibt nur das Meer. Was bleibt? Kynische Entsagung? Zynisches Weiter-so? Dionysische Betäubung? Der Zornrausch des Achill? – „Das ist der äußerste Nihilismus: der blinde, wütende Mord wird eine Oase“188. Vielleicht gibt es fürwahr „nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord“189 – nicht nur als Achills wütender Wille zum Untergang, nicht nur als Sturz ins Schwert mit philosophischer Geste. Nein, mit philosophischer Geste stürzte sich Cato in sein Schwert, wir bleiben einfach an Bord190, machen weiter wie bisher und gestehen, dass wir mit dem Leben nicht fertig werden, und verstehen, dass wir es nicht verstehen.191 Wir weben das Segeltuch, wir haben vergebens gehofft und geharrt, wir rudern die Ruder, wir wälzen den Stein, wir weben, wir leben. Können wir uns Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen? Albert Camus steht ein