Heimatflucht wurde zum Heimatfluch: Die Neugier trieb uns hinaus, trieb fort die Heimat, die keine war, die Sehnsucht nach ihr treibt uns um. In der Sensibilität dafür mag ein bedeutsamer Unterschied von Horkheimer und Adorno zu Lévinas liegen. Jene waren sich stets bewusst: „Heimweh ist es, das die Abenteuer entbindet, durch welches Subjektivität, deren Urgeschichte die Odyssee gibt, der Vorwelt entrinnt.“136 Insbesondere Adorno hat vom Gedanken der Heimat, von der Wahrheit des Ganzen und der Ganzheit der Wahrheit nie gelassen, so sehr er für das Nichtidentische stritt. Ja, die Widersprüche falscher Totalität waren ihm der Motor für die Würdigung des bleibend Nicht-Identischen, Anderen. So verwandt die Motive bei Lévinas und Adorno, so unterschiedlich scheint mir die Sensibilität für die Dialektik der Kräfte, die die Sehnsucht, das Heimweh, entbindet. Lévinas scheint hier eher auf Abgrenzung bedacht – und begibt sich dann phänomenologisch auf die Spur des Anderen. So dürfe man z. B. das Werk „vor allem nicht ähnlich wie die Technik denken, die, durch die berühmte Negativität hindurch, eine fremde Welt in eine Welt umformt, deren Anderheit sich in meine Idee verwandelt.“137 Adorno dagegen, der Dialektiker, zeigt, wie ein Wissen, dessen Wesen Technik ist, eben das Subjekt formt, das in seiner gleichzeitigen Deformierung erst zu wahrhaftigem Heimweh fähig ist. Er lotet Naturwissenschaft und Philosophie als Projekte der Wiederverzauberung aus, die in der entzaubernden Ent-fremdung des Anderen der Entfremdung Vorschub leisten, die zugleich Bedingung echter Nähe ist.138 Heimat wäre das Entronnensein, u. a. dort, wo wir ohne Furcht in der „schönen Fremde“ (Eichendorff) Wohnung nehmen dürften und unser „Glück daran [hätten], daß es in der gewährten Nähe das Ferne und Verschiedene bleibt, jenseits des Heterogenen wie des Eigenen.“139 Doch auch für Adorno scheint Nietzsches Diktum zu gelten: „es gibt kein ‚Land‘ mehr!“ – ob als prinzipiell-theoretische oder historisch-gesellschaftliche Möglichkeit nicht, darüber wäre zu reden.
Achilles
Die Moderne ging aufs Ganze, und das Ganze war ihr Projekt140: die Geschichte bzw. der Fortschritt der Menschheit, das Reich der Freiheit, die klassenlose Gesellschaft etc. Die Moderne warf sich nach vorn und unterstellte die Zukunft der Projektform: Zukunft als planvolles Vorhaben der zielgerichtet, zweckvoll handelnden Menschheit.
„Beflügelt von einem geschichtemachenden Gemisch aus Optimismus und Aggressivität, hat sie die Herstellung einer Welt in Aussicht gestellt, in der es kommt, wie man denkt, weil man kann, was man will, und den Willen hat, zu lernen, was man noch nicht kann. Es ist der Wille zur Macht des Selberkönnens, der in moderner Zeit den Weltlauflaufen macht.“141
Nach der Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts müssen wir gestehen: Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt; wir handeln, also geschieht es. Lineare Erzeugungsphantasien scheitern an komplexen Systemen.142 Und sie forderten Opfer, jene Wissenschafts-, Technik- und Sozialutopien der Moderne, die die Menschheit zum handelnden Subjekt hatten und dem Menschen die Macht über sein Dasein und der Menschheit eine Perspektive geben wollten. Im Angesicht der Trümmer der Geschichte enthüllte sich diese Perspektive bestenfalls als optische Täuschung, als „quasi-pathologische“ Sehstörung143: Selbsternannte Heilssubjekte traten im Namen der Menschheit, im Namen des Allgemeinwohls auf – und erhoben, bewusst oder unbewusst, doch bloß ihre eigene partikulare Perspektive zum Absoluten. Übersehen wurden dabei die Opfer, schlimmstenfalls wurden sie bewusst in Kauf genommen. Im Allgemeinen ist seither Misstrauen geboten. Argwöhnisch beäugt wird jede Philosophie und jede politische Vision, die aufs Ganze geht. Dahinter „vernehmen wir nur allzu deutlich das Raunen des Wunsches, den Terror ein weiteres Mal zu beginnen, das Phantasma der Umfassung der Wirklichkeit in die Tat umzusetzen. Die Antwort darauf lautet: Krieg dem Ganzen“144, „Vive la différence“ – mit diesen Wahlsprüchen wird nun „das Singuläre, Differente und Plurale gegen den potenziell totalitären Zugriff des Universalen, Identischen und Singularen“145 verteidigt. Das Postulat radikaler Pluralität „als zuinnerst positiver Vision“ wird allen unbedingten Geltungsansprüchen als der „illegitimen Erhebung eines in Wahrheit Partikularen zum vermeintlich Absoluten“ entgegengesetzt.146 „Fortan stehen Wahrheit, Gerechtigkeit, Menschlichkeit im Plural“147 – um der Menschheit, um der Menschlichkeit willen, aus einem zutiefst ethischen Impetus heraus, der freilich selbst noch von den Idealen der Moderne zehrt. Dieses Postulat radikaler Pluralität ist klar zu unterscheiden vom Pluralismus einer „geläufigen und gefälligen Oberflächen-Buntheit“148. Und doch – wider Willen – in seiner Dynamik und in seinen Konsequenzen unterschätzt. „Unsere Gegenwart ist […] ein spätmoderner Kampfplatz stahlharter Vielheiten im Sinne Max Webers […] : ‚[Die] verschiedenen Wertordnungen der Welt [stehen] in unlöslichem Kampf untereinander […]. Die alten […] Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern […] und beginnen […] wieder ihren ewigen Kampf.‘“149 Zugleich stehen wir in dieser Welt partikularer Interessen und umkämpfter Ressourcen vor globalen Problemen. Globale Probleme aber erfordern globale Lösungen. Regionale bzw. lokale Lösungsansätze erweisen sich immer wieder als unzureichend. Doch, historisch wie philosophisch gebildet, verweigern wir uns aus Erfahrung umfassenden Konzepten. Nach der Selbstbesinnung der Moderne kreuzen sich misstrauische Epoché, zynisches Weiter-so und kynische Entsagung, die die ‚Projekte‘ verwarf150– und stoßen uns in einen Abgrund ohnmächtiger Lähmung bei allem, was individuell-pragmatische Lebensziele oder die Zwecke konkurrierender Rackets151 übersteigt: Vernunft verkleinert „aufs Format der Privatvernunft im Dienst an Individual-, Gruppen- und Systemegoismen.“152 Auch Peter Sloterdijk hat in seinem Essay Zorn und Zeit diese Gemengelage im Blick:
„Inzwischen haben die ‚Vielheiten‘, die Ausdifferenzierungen, die Singularitäten so viel Zulauf, daß bei ihren Trägern sogar das Bewußtsein der gemeinsamen Zugehörigkeit zu einer einzigen ‚Menschheit‘ in Vergessenheit geraten könnte. […] Sogar die negative Utopie, die Erwartung einer weltweiten Naturkatastrophe ist außerstande, einen übergreifenden Horizont verbindlicher Aufbrüche zu stiften. Der Geist der Desolidarisierung, privat, lokal, national, multinational, imperial, reicht so tief, daß jede Einheit auf ihre Weise die eigene Verschonung für gewiß halten möchte, sollten auch die übrigen vom Mahlstrom verschlungen werden. Wie gefahrenträchtig die multi-egoistische Lage ist, werden die kommenden Jahrzehnte zeigen. Gehörte es zu den Lektionen des 20. Jahrhunderts, daß Universalismus von oben scheitert, könnte es zum Stigma des 21. Jahrhunderts werden, die rechtzeitige Ausbildung des Sinns für gemeinsame Situationen von unten nicht rechtzeitig zu schaffen.“153
Die Chancen stehen schlecht. Die geschilderte Gemengelage blockiert bereits im Ansatz theoretisch jeden Aufbruch, der praktisch ohnehin stets schwierig war. Nach dem Verlust des transzendenten Heils erweist sich das erhoffte immanente als nicht organisierbar und der Versuch, in einem emphatischen Handlungssinn Geschichte zu machen, als Illusion. Adressaten- und ziellos, theorie- und politiklos bleiben jene zurück, die das Schlechte sehen, aber einem vorgeblich Besseren nicht mehr folgen, geschweige denn eines erkennen können. Perspektivlos bleiben auch jene Erniedrigten und Beleidigten, denen einst die großen Erzählungen durchaus Hoffnung boten. Insofern ließe sich mit Sloterdijks „imaginärem Dialog